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Die Geisel

Titel: Die Geisel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Katz Krefeld
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oberen Teil der Böschung aus den Augen zu lassen.
    »Von einem Spaziergang hat niemand was gesagt. Der steht nicht in meinem Tagesplan.«
    »Es ist Sonntag, und am Sonntag sollte man keine Pläne machen«, entgegnete sie lächelnd mit Blick auf die Böschung. Sie war sicher, den Ort erreicht zu haben, an dem sie früher gespielt hatten - vielleicht noch ein Stückchen weiter. Damals hatte es noch keine Hagebuttensträucher gegeben. Der Beamte sah sich unsicher um. Sein Kollege war im Wagen sitzen geblieben, um auf Majas Mercedes aufzupassen. Sie befanden sich ganz allein auf den Pfaden, die sich zwischen den Bahngleisen, der Villengegend und der Wiese hindurchschlängelten. Bei Joggern und Hundebesitzern waren sie sehr beliebt, aber obwohl heute Sonntag war, lag alles still und verlassen da. Die Wärme veranlasste offenbar Menschen und Hunde dazu, sich daheim aufzuhalten.
    »Wird es lange dauern?«
    Sie antwortete ihm nicht. Ihre Gedanken waren ebenso wie ihr Blick ganz auf die Böschung konzentriert. Von hier aus war es unmöglich, zu den Gleisen zu gelangen. Nicht dass sie es versuchen wollte, doch es bewies, dass auch Lasse es nicht getan haben konnte. Sie folgte dem Verlauf der Böschung, die sich entlang der Rasenfläche, die an das Villenviertel angrenzte, in einem Bogen vom Pfad fortbewegte.
    »Ich glaube, wir sollten uns hier lieber nicht aufhalten, Frau Holm. Ihrer eigenen Sicherheit zuliebe.«
    Sie drehte sich zu dem Polizisten um, der auf dem Pfad stehen geblieben war. Er schaute sie an, als hätte sie ein Schild »Rasen betreten verboten« ignoriert.
    »Vor anderthalb Jahren ist hier ein Junge ums Leben gekommen«, erklärte sie und zeigte nach hinten in Richtung Böschung. »Haben Sie das gewusst?«
    Der Beamte schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin erst vor einem halben Jahr hierher gezogen.«
    Offenbar machte diese Information nicht den geringsten Eindruck auf ihn.
    »Und ich möchte gern wissen, wo er nach oben gekrabbelt sein könnte. Das dauert nur fünf Minuten.«
    Er trocknete sich den Schweiß von der Stirn. »Dann … Dann muss ich mal eben telefonieren. Ich habe die Anweisung, mich nicht von Ihrem Haus wegzubewegen, und jetzt … Jetzt sind wir hier.« Der Beamte tastete fahrig nach dem Handy in seiner Hosentasche.
    Maja ging quer über die verdorrte Rasenfläche, bis sie die gegenüberliegende Ecke erreicht hatte. Die Hagebuttensträucher erstreckten sich die Böschung hinunter und bildeten eine Grenze zwischen der Rasenfläche und dem ersten Garten des Villenviertels. Sie schaute über die Büsche hinweg. Zwischen den Gärten und der Böschung verlief ein schmaler Pfad. Maja konnte nicht erkennen, wie lang er war, vermutete aber, dass er nach mehreren hundert Metern am Tværvejen endete. Oben auf der Böschung waren die Hagebuttensträucher durch meterhohe Lärmschutzwände abgelöst worden. Sie schirmten das Sonnenlicht ab und tauchten den Pfad in Zwielicht. Sie wusste, dass Lasse nur sechs, sieben Häuser von hier entfernt gewohnt hatte. Die Vermutung lag nahe, dass er den Pfad benutzt hatte, um zu den Gleisen zu gelangen. Andererseits war es unmöglich, über die Lärmschutzwände zu klettern. Sie wollte schon umdrehen, als sie plötzlich eine Lücke zwischen den Hagebuttensträuchern und der ersten Lärmschutzwand entdeckte. Es war schwer zu sagen, wie groß diese Lücke war und ob die Möglichkeit bestand, an dieser Stelle die Böschung hinaufzukommen. Sie sah zu dem Polizisten zurück. Er stand immer noch am anderen Ende der Rasenfläche, hatte ihr den Rücken zugekehrt und telefonierte. Sie fragte sich, ob sie ihm etwas zurufen sollte, doch wäre es zu kompliziert gewesen, ihm auf diese Weise die Situation zu erklären. Stattdessen schlüpfte sie zwischen zwei Hagebuttensträuchern hindurch und stand plötzlich auf dem dunklen Pfad.
    Die dürren Bäume zeichneten sich blau vor dem schwarzen Gebüsch ab. Hier war es ziemlich kühl und roch schwach nach Humus. Ihre Augen gewöhnten sich rasch an die Dunkelheit. Sie blickte die Böschung entlang. Dort, wo sie am flachsten war, gab es einen ausgetretenen Trampelpfad, der bis zu der Lücke zwischen Strauch und Lärmschutzwand verlief. Sie war so groß, dass sich ein Kind hindurchzwängen konnte. Vielleicht auch ein schmaler Erwachsener. Sie konnte sich gut vorstellen, dass Lasse hier hinaufgeklettert war, ebenso wie viele andere Kinder. Sie sah den Pfad entlang. Plötzlich schien er ihr düsterer und unheimlicher als zuvor. Selbst die

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