Die Geisel
war und von den Nachbargrundstücken aus nicht eingesehen werden konnte. »Ein schönes neues Dach bekommen Sie da«, sagte Maja.
»Ja, so langsam wird’s.«
In diesem Moment kam ein Mann aus der Terrassentür. Seine langen blonden Haare flatterten im Wind. Er blickte Maja mit seinen schmalen Augen an und lächelte einladend. »Tag«, sagte er.
Maja nickte.
»Hast du noch Zigaretten?«, fragte er mit Blick auf die Frau.
Sie angelte eine platt gedrückte Schachtel aus ihrer Tasche und warf sie ihm zu. »Besten Dank«, sagte er und ging wieder hinein.
Sie spazierten um das Haus herum, bis sie die Einfahrt erreichten, auf der ein ramponierter Kastenwagen stand. Zwei junge Männer mit nacktem Oberkörper wuchteten gerade ein Sofa von der Ladefläche. Sie grüßten und trugen das Sofa zur Kellertreppe.
»Das ist Jonathan«, sagte Stephanie zu Maja und zeigte auf den hinteren der beiden.
Maja lächelte. »Ist das dein großer Bruder?«
»Unser neuer Mieter«, sagte die Frau.
Maja schaute sie aufmerksam an. »Sie vermieten das Haus also?«
»Nur den Keller. Das hilft, wenn man pünktlich seine Rechnungen zahlen soll.«
Maja nickte. Sie bedankte sich dafür, dass sie den Garten hatte überqueren dürfen, und winkte Stephanie zum Abschied zu.
Maja beeilte sich, zu ihrem Mercedes zu kommen. Sie hatte keine neuen Erkenntnisse über Lasses Tod gewonnen. Stattdessen hatte sie etwas anderes herausgefunden. Die Villengegend gehörte zum Einzugsgebiet ihrer Praxis. Daher war es möglich, im Patientenregister nach den Einwohnern zu suchen. Hoffentlich auch nach denen, die früher einmal hier gewohnt hatten. Sie wollte überprüfen, ob auch Lasses Eltern womöglich ihren Keller vermietet hatten.
Der junge Beamte lief ihr entgegen. »Ich habe Sie überall gesucht«, keuchte er.
»Hier bin ich doch«, entgegnete sie lächelnd.
»Wir müssen unbedingt feste Abmachungen treffen.«
»Ja, unbedingt«, erwiderte Maja. Er tat ihr wirklich leid.
24
Seit dem Besuch von Lasses Elternhaus überlegte Maja, wie wahrscheinlich es war, dass Pan etwas mit seinem Tod zu tun hatte. Ihr waren Zweifel gekommen. Der Alkohol im Blut des Jungen und sein Aufenthalt auf den Gleisen konnten auch eine Art Mutprobe gewesen sein. Dennoch fühlte sie sich verpflichtet, alle Möglichkeiten zu untersuchen, und so gab sie seine frühere Adresse in die Datenbank ihrer Praxis ein. Die Namen von Stephanie und ihren Eltern erschienen auf dem Bildschirm. Der neue Untermieter war noch nicht registriert. Wenn sie etwas über Lasse und die Person herausfinden wollte, die früher unter dieser Adresse gewohnt hatte, musste sie in den Keller und das alte Archivsystem unter die Lupe nehmen. Auch wenn die Patientenakten an eine andere Praxis weitergegeben worden waren, behielten sie stets eine Kopie in ihrem Archiv.
Es widerstrebte ihr, allein das entlegene Archiv im Keller aufzusuchen. Dort waren schon früher ungebetene Gäste aufgetaucht. Andererseits wollte sie keinen Kollegen in die Sache mit hineinziehen oder den jungen Beamten darum bitten, sie zu begleiten.
Es war Viertel nach zwei, als Maja sich vom letzten Patienten des Tages verabschiedete. Sie nahm den Lift in den Keller, den sie sich mit den anderen Firmen im Gebäude teilten. Vor allem waren das Anwalts- und Steuerkanzleien.
Vor ihr lag der schmale Gang, der zu ihrem Kellerraum am anderen Ende des Gebäudes führte. Nur das summende Geräusch der Neonröhren war zu hören. Sie redete sich vergeblich ein, dass es keinen Grund gab, Angst zu haben.
Ihre Hände zitterten, als sie den Schlüssel aus der Tasche zog und die Tür zum Archiv aufschloss. In diesem Moment hörte sie irgendwo hinter sich ein dumpfes Geräusch und drehte sich in der Türöffnung um. Ihr Herz pochte heftig, und sie bereute es, allein ins Untergeschoss gegangen zu sein. Sie umfasste das Skalpell, das sich in der rechten Brusttasche ihres Kittels befand, und lauschte, bis sie ganz sicher war, von niemandem gestört zu werden. Dann trat sie an die hohen Archivschränke, die eine ganze Wand des Raumes in Anspruch nahmen.
Das Archiv war alphabetisch geordnet. Daher fand sie rasch den Namen der Familie. Sie entdeckte, dass Lasse einen kleinen Bruder namens Thomas gehabt hatte und beide Eltern unter derselben Adresse gemeldet waren. Jetzt musste sie nur noch sämtliche Patientenakten durchgehen, um herauszufinden, ob unter dieser Adresse auch ein Mieter gemeldet war.
Es dauerte fast anderthalb Stunden, um alle
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