Die Geisel
Chance, dass sie ihn persönlich kannte, war minimal. In einer Spalte stand, zu welchem Datum ihm jeweils Antidepressiva verschrieben und ausgehändigt worden waren. Doch kein einziger Eintrag stammte aus dem letzten Jahr. Das wunderte sie. Entweder hatte eine der Sekretärinnen vergessen, es zu vermerken, oder Søren Rohde hatte seine Medikamente nicht mehr bekommen.
Die Patientenakte ging bis auf sein zwanzigstes Lebensjahr zurück. Sie suchte nach den Namen seiner früheren Ärzte, fand aber nichts. Die Anamnese seiner Kindheit und Jugend fehlte völlig.
Aus der Akte ging hervor, dass Søren Rohde im Jahr 1996 für sechs Monate in die Psychiatrische Klinik eingeliefert worden war. Darum mussten im dortigen Zentralregister irgendwelche Unterlagen über ihn existieren. Sie musste Claus dazu bringen, noch einmal nachzusehen.
Sie versuchte es unter seiner Privatnummer, aber es ging keiner dran. Dann rief sie direkt die Zentrale des Krankenhauses an. Gleichzeitig hörte sie das akustische Signal des Aufzugs. Maja stand auf und ging zur Tür. Ihre Hände waren feucht. In diesem Moment meldete sich wieder die Zentrale. Sie bat mit Claus Willum von der Psychiatrie verbunden zu werden. Es klickte ein paar Mal in der Leitung. Sie streckte den Kopf aus der Tür und schaute den Gang hinunter. An der Rezeption war nach wie vor kein Mensch zu sehen. Die Frau von der Zentrale meldete sich wieder und teilte ihr mit, dass Claus Willum in einer Besprechung sei. Maja bedankte sich und legte auf. In diesem Moment klappten die Schwingtüren am anderen Ende der Rezeption auf.
»Sunshine, sunshine reggae …«, sang ein arabisch aussehender Mann. Er war Ende zwanzig und trug einen riesigen Kopfhörer, der sich in Gestalt zweier tiefer Teller um seine Ohren wölbte. Langsam schob er einen Putzwagen vor sich her. Als er Maja sah, winkte er und verschwand in der Küche.
Sie ging zu ihrem Computer zurück und überprüfte Søren Rohdes Adresse im Internet, aber sein Name war nirgends zu finden. Auch die Telefonauskunft konnte ihr nicht weiterhelfen. Der letzten Adresse zufolge, die er angegeben hatte, wohnte er in einem Hochhaus an der Umgehungsstraße. Sie beschloss, einen kleinen Umweg in Kauf zu nehmen, um nachzusehen, ob die Adresse nicht vielleicht doch noch aktuell war.
25
Maja fuhr die Umgehungsstraße entlang. Sie hatte ihr Headset aufgesetzt und versuchte ein weiteres Mal, Claus zu erreichen. Es war schon nach vier Uhr und die Telefonzentrale des Krankenhauses mittlerweile geschlossen. Sie wählte erneut seine Privatnummer und hinterließ die Bitte auf seiner Mailbox, sie so schnell wie möglich zurückzurufen.
Auf dem Beifahrersitz lag der Ausdruck von Søren Rohdes Patientenakte. Über den eigentlichen Charakter seiner geistigen Krankheit sagte sie jedoch kaum etwas aus. Wenn Claus ihn im Zentralregister fand, würde sie einen vollständigen Überblick über Rohdes Krankheit bekommen. Die Akte würde über Details seiner Schizophrenie und eventuelle Wahnvorstellungen Auskunft geben. Vielleicht stimmten sie ja mit Pans Universum überein. Auch würde sie erfahren, ob er vor oder nach seiner Einlieferung in die Psychiatrie gewalttätig gewesen war. Sie wunderte sich immer noch darüber, dass Claus bei seinen Recherchen nicht auf ihn gestoßen war.
Maja warf einen Blick in den Rückspiegel. Sie war es gewohnt, dass ihr die Polizei wie ein langer Schatten folgte. Nun zog sie stattdessen einen ganzen Rattenschwanz von Pendlern, die auf dem Heimweg waren, hinter sich her. Als die Schlange vor der Kreuzung zum Stehen kam, blickte Maja zu dem trostlosen Hochhaus empor, in dem Søren Rohde vielleicht noch wohnte. Die Wohnungen lagen über acht Stockwerke verteilt und hatten alle einen winzigen, zellengroßen Balkon, der auf die Umgehungsstraße hinausging. Die meisten benutzten ihren Balkon als Gerümpelkammer, was den Eindruck erweckte, als habe das Haus, deren Mieter ihr elendes Leben zur Schau stellten, keine Fassade.
Im Volksmund war das Hochhaus als »Höllenturm« bekannt. Wiederholt war die Rede davon gewesen, es einfach abzureißen. Aber im Stadtrat hatte sich nie eine Mehrheit dafür finden können - vor allem deshalb, weil das Gebäude sozusagen die Ärmsten der Armen beherbergte und niemand im Rathaus den politischen Mut aufbrachte, diese Sozialfälle auf die wohlhabenderen Wohngegenden zu verteilen.
Ihr Handy klingelte. Es war Claus. Seine Stationsbesprechung war zu Ende. Sie erzählte von der neuen Spur, die
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