Die Geisel
sie entdeckt hatte, verschwieg ihm aber ihren Besuch von Lasses Elternhaus. Es bestand ein haarfeiner Unterschied zwischen Engagement und Fanatismus, wie sie sehr wohl wusste. »Könntest du gezielt nach ihm suchen?«
Claus seufzte. »In Ordnung, aber kann das bis morgen warten?«
»Ich muss unbedingt wissen, wer dieser Søren Rohde ist.«
»Also gut, gib mir seine Personenkennziffer und zehn Minuten Zeit. Aber dann schuldest du mir ein Mittagessen.«
Sie gab ihm die Nummer und legte auf, ohne die Sache mit dem Mittagessen zu kommentieren.
In die Schlange kam wieder Bewegung. Maja bog um die Ecke, fuhr am Hochhaus vorbei und brachte ihren Wagen unmittelbar vor der kleinen Ladenzeile am anderen Ende des großen Parkplatzes zum Stehen. Ihr gegenüber lag der Aufgang zu Nummer 8b. Der Patientenakte zufolge wohnte Søren Rohde in der Wohnung Nummer 9 im ersten Stock. Sie beugte sich über das Lenkrad und schaute zum schmalen Laubengang empor. Sie zählte neun erbsengrüne Türen. Im Treppenhaus konnte sie die aluminiumfarbenen Briefkästen erkennen.
Vielleicht sollte sie einfach hineingehen und nachschauen, ob sein Name da stand. Walnuss bewegte sich, sie spürte seinen Druck auf ihrer Blase. Maja sah in Richtung der kleinen Ladenzeile. Dort fanden sich ein Gemischtwarenladen, der nur tagsüber geöffnet hatte, ein Aldi, eine Wäscherei mit Münzautomaten und ein Pizza-Schnellimbiss. Letzteres konnte sie bis in ihr Auto hinein riechen. Sie glaubte nicht, dass es dort irgendwo eine Gästetoilette gab, und verfluchte sich, vor ihrem Aufbruch nicht noch im Ärztehaus aufs Klo gegangen zu sein. Man hatte es schwer als Privatdetektiv, wenn man schwanger war und einem andauernd die Blase drückte.
Sie wollte gerade die Wagentür öffnen, als Claus zurückrief. »Maja?« Er hörte sich bedrückt an.
»Hast du die Patientenakte gefunden?«
»Ja, wo bist du?«
Sie fragte sich kurz, ob sie ihm die Wahrheit erzählen sollte.
»Ich … bin dort, wo er zuletzt gewohnt hat. Kannst du mir nicht einfach eine Mail schicken?«
»Du stehst bei Søren Rohde vor der Tür?«, fragte er plötzlich aufgeschreckt.
»Ja, zumindest glaube ich das.«
»Maja! Es ist unbegreiflich, dass sein Name im ADAM nicht aufgetaucht ist. Ich kann es mir nur so erklären, dass sein Name zu den wenigen gehört, die noch nicht erfasst wurden … Oder ich muss ihn übersehen haben …« In seiner Stimme schwang Panik mit.
»Beruhige dich, Claus. Was hast du denn herausgefunden?«
»Du musst sofort von dort verschwinden!«
Sie rutschte nervös auf dem Sitz hin und her. »Aber was hast du denn gelesen?«
»Ich maile dir die Akte. Wahrscheinlich wäre es eine gute Idee, sofort die Polizei zu verständigen. Du kannst einfach auf mich verweisen, wenn sie …«
»Ist er das, Claus?«
»Das … Das ist gut möglich. Lies die Akte, und ruf mich dann zurück.«
»Okay«, antwortete sie beklommen.
Im nächsten Moment empfing sie die Mail von Claus auf ihrem iPhone. Sie öffnete den Anhang. Er enthielt Søren Rohdes Patientenakte aus der Psychiatrie. Am Anfang wurde auf das Ergebnis der psychiatrischen Untersuchung eingegangen. Sie war vor knapp zehn Jahren nach seiner Zwangseinlieferung vorgenommen worden. Die Einlieferung hatte mit einer polizeilichen Anzeige in Verbindung gestanden. An einem nahe gelegenen See hatte er zwei Schwäne mit einem Küchenmesser getötet - in entkleidetem Zustand, wie es hieß. Dann war er im blutigen Wasser herumgeschwommen, bis er von zwei Mitarbeitern des Parks aufgegriffen worden war.
Bei der Untersuchung seines Geisteszustands waren Schizophrenie und schwere Wahnvorstellungen diagnostiziert worden. Er war davon überzeugt, dass andere ihm böse Gedanken einflößten. Und es waren diese Gedanken, die ihm befohlen hatten, die Schwäne zu töten. Zur weiteren medizinischen Behandlung waren Neuroleptika und Antidepressiva verordnet worden sowie eine Gesprächstherapie. Während der Therapiesitzungen berichtete Søren Rohde von weiteren Tiermisshandlungen. In einem Fall hatte er einen Hund gestohlen, der angeleint vor einem Laden gestanden hatte, und später in Stücke geschnitten. Es war nicht zu entscheiden gewesen, ob dies tatsächlich geschehen oder eine Ausgeburt seiner Fantasie war. Gegen Ende seiner medizinischen Behandlung stellten sich deutliche Erfolge ein; sein Zustand besserte sich erheblich. Er hatte begonnen, zu zeichnen und Gedichte zu schreiben. Eine der Zeichnungen war in die Patientenakte eingescannt. Es
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