Die Geisha - Memoirs of a Geisha
der Werkstatt vorübereilten. Manchmal warf ich ein Blütenblatt oder einen Strohhalm hinein, weil ich wußte, sie würden ganz bis nach Osaka getragen werden, bevor sie ins Meer hinausgespült wurden. Ich fragte mich, ob der Direktor vielleicht eines Nachmittags, wenn er am Schreibtisch saß, zum Fenster hinausblicken und dieses Blütenblatt oder jenen Strohhalm sehen und dabei möglicherweise an mich denken würde. Bald schon kam mir jedoch ein beunruhigender Gedanke. Es konnte ja sein, daß der Direktor das Blütenblatt sah – obwohl ich das bezweifelte –, aber selbst wenn er es sah und sich zurücklehnte, um an all die Dinge zu denken, die dieser Anblick ihm in Erinnerung rief, war es möglich, daß ich überhaupt nicht dazugehörte. Gewiß, er war immer sehr freundlich zu mir gewesen, aber er war eben ein freundlicher Mensch. Er hatte nie auch nur im geringsten erkennen lassen, ob er in mir das Mädchen erkannte, das er einst so liebevoll getröstet hatte, oder ob er merkte, daß ich etwas für ihn empfand und an ihn dachte.
Eines Tages gelangte ich zu einer Erkenntnis, die in gewisser Hinsicht sogar noch schmerzlicher war als meine plötzliche Einsicht, daß Satsu und ich uns niemals wiedersehen würden. Ich hatte die Nacht zuvor über einem beunruhigenden Gedanken gebrütet und mich zum erstenmal gefragt, was wohl geschehen würde, wenn ich ans Ende meines Lebens kam und der Direktor noch immer keine Notiz von mir genommen hätte. Am folgenden Morgen zog ich sofort meinen Almanach zu Rate, weil ich hoffte, ein Zeichen zu finden, daß mein Leben nicht ganz ohne Sinn bleiben würde. Ich war so niedergeschlagen, daß es sogar Herrn Arashino aufzufallen schien, denn er schickte mich aus, um in dem dreißig Minuten entfernten Kurzwarengeschäft Nähnadeln zu kaufen. Als ich auf dem Rückweg bei Sonnenuntergang am Straßenrand entlangwanderte, wäre ich fast von einem Militärlastwagen überfahren worden. Noch nie war ich so nahe daran gewesen, getötet zu werden. Am nächsten Morgen erst entdeckte ich, daß mich mein Almanach davor gewarnt hatte, in Richtung der Ratte zu reisen, das heißt genau in die Richtung, in der das Kurzwarengeschäft lag. Weil ich nur nach einem Zeichen für den Direktor Ausschau hielt, hatte ich die Warnung übersehen. Nach diesem Erlebnis begriff ich die große Gefahr, die darin liegt, wenn man sich nur auf etwas konzentriert, was nicht da ist. Was wäre, wenn ich ans Ende meines Lebens gelangte und erkennen müßte, daß ich Tag für Tag nach einem Mann Ausschau gehalten hatte, der niemals zu mir kommen würde? Wie unerträglich traurig, wenn ich einsehen müßte, daß ich die Dinge, die ich aß, niemals richtig genossen, die Orte, an denen ich gewesen war, niemals richtig gesehen hatte, weil ich an nichts anderes als an den Direktor dachte, während mir das Leben durch die Finger rann! Und doch, wenn ich meine Gedanken von ihm zurückhielt, was für ein Leben wäre das für mich gewesen? Ich wäre wie eine Tänzerin gewesen, die seit ihrer Kindheit für eine Vorstellung geprobt hat, die sie niemals geben wird.
Für uns endete der Krieg im August 1945. Fast alle, die während dieser Zeit in Japan lebten, werden Ihnen erklären, daß dies der schlimmste Augenblick in einer langen Nacht der Dunkelheit war. Unser Land war nicht einfach besiegt, es war vernichtet worden – und damit meine ich nicht die Bomben, so schrecklich sie auch gewesen waren. Wenn das eigene Land einen Krieg verliert und fremde Besatzungstruppen hereinströmen, fühlt man sich, als werde man selbst zum Hinrichtungsplatz geführt, wo man mit gefesselten Händen niederknien und auf das Schwert warten muß, das herniedergesaust kommt. Ungefähr ein Jahr lang hörte ich niemanden lachen, es sei denn den kleinen Juntaro, der es ja nicht besser wußte. Und wenn er lachte, winkte sein Großvater sofort mit der Hand, damit er still war. Immer wieder habe ich beobachtet, daß Männer und Frauen, die während dieser Jahre Kinder waren, eine gewisse Ernsthaftigkeit an sich hatten – weil in ihrer Kindheit zuwenig gelacht wurde.
Im Frühjahr 1946 hatten wir alle eingesehen, daß wir die Qual der Niederlage durchstehen mußten. Ja, es gab sogar einige, die daran glaubten, daß Japan eines Tages erneuert werde. All die Geschichten über amerikanische Besatzungssoldaten, die vergewaltigten und mordeten, hatten sich als falsch herausgestellt, und wir gelangten allmählich zu der Einsicht, daß die Amerikaner im großen und
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