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Die Geister schweigen: Roman (German Edition)

Die Geister schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Die Geister schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Care Santos
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ausgesetzt war, wo alles, seine eigene Person eingeschlossen, dem Vergessen anheimgegeben zu sein schien, erschreckte mich zunächst. Doch dann war ich sehr angetan davon, wie dieser Mann, von dem Modesto mir als abwesendem und egoistischem Vater berichtet hatte, mich nun wie ein charmanter Kavalier behandelte und versuchte, ein ungezwungenes Gespräch zu führen. Ich fühlte mich in seiner Gesellschaft wohl und hätte ihn gerne wieder getroffen. Als ich ihn dann wiedersah, lag er im Sarg, und ich war längst von seinem Sohn geschieden.
Denk daran, bevor du deine Vorfahren allzu hart beurteilst. Wir alle haben einmal in einer schwierigen Situation Fehler begangen. Wir alle haben irgendwann einmal jemanden in dem Moment, in dem er uns am meisten benötigte, im Stich gelassen. Liebes, quäl dich nicht so! Und quäl deinen Vater nicht damit!
Liebe Grüße von Jason!

Ich hab dich lieb!

Mama

P. S.: Ich habe nicht vergessen, dass du mir noch eine Geschichte schuldest.
Moleskine Notizbuch von Violeta Lax
März 2010
Porträts bergen für den Betrachter eine große Gefahr: Sie verleiten einen dazu, sich alle möglichen Geschichten auszudenken. Womöglich ist die junge Dame, die sich zurücklehnt und sanftmütig in die Welt blickt, in Wirklichkeit eine eiskalte Matrone, die ihrem gesamten Umfeld das Leben zur Hölle gemacht hat. Oder das Idealbild von einem Ehepaar, das mit locker verschlungenen Händen, in Sommerlicht getaucht, unter einem Zitronenbaum posiert, während die Kinder über den weichen Rasen verstreut spielen. Im wirklichen Leben sind sich die Eheleute völlig fremd. Sie waren in ihrem gemeinsamen Zuhause nur für die Zeit zusammengekommen, in der das Porträt angefertigt wurde. Ihre Kinder wachsen, emotional vernachlässigt, zwischen Hausmädchen und Köchinnen auf, während die Eheleute selbst in jeweils anderen Heilbädern in verschiedenen Ländern Europas vor sich hinwelken.
Man muss wirklich vorsichtig sein, wenn man die Werke von Porträtmalern betrachtet. Man muss sich immer sagen: ›Ich akzeptiere Überraschungen und damit auch Täuschungen.‹ Es ist wie mit Romanen: Die Lüge gehört zu den Spielregeln. Auch wenn die Wahrheit irgendwo immer durchscheint. Denn die Wahrheit ist das Einzige, das sich lohnt, einer anderen Zeit zu vererben, und sei es nur ein Blick, eine elegante Geste oder die flüchtige Schönheit einer widerspenstigen Haarlocke. Oder vielleicht auch eine absurde Geschichte, die die Nachfahren sich unter Lachen und Weinen immer wieder erzählen.
Ja, die Kunst ist eine Täuschung. Aber dort, wo sie es nicht mehr ist, spricht sie die einzige Wahrheit aus, die wichtig ist.
Von: Violeta Lax
Gesendet am: 23. März 2010
An: Valérie Rahal
Betreff: Letzter Tag mit Teresa

Hallo, Mama,

heute habe ich den gesamten Tag Teresa gewidmet. Ich bin den gesamten Vormittag im MNAC gewesen. Du wirst das vermutlich für idiotisch halten, aber ich musste sie unbedingt sehen. Ich meine natürlich ihre Porträts. Ich hatte schon vergessen, wie entsetzt ich immer bin, wenn ich die Abteilung für moderne Kunst in unserem Nationalmuseum betrete. Da hängen die Werke eines Josep Amat, Antoni Clavé, Hermen Anglada Camarasa oder Modest Urgell aus den Beständen des ehemaligen Museo de Arte Moderno de la Ciudadela, wo ich vor Jahren so viele Nachmittage verbracht habe. Dazwischen findet man ohne jegliche Systematik oder Konzeption die Bilder von Großvater. Das ist so anders, als er sich das vorgestellt hatte, und das macht die ganze Sache noch schlimmer. Das hat sein Werk einfach nicht verdient. Ich habe sofort die Teresa-Porträts gesucht. Ihre Kleider, ihre Posen, Teresas Entwicklung im Verlauf der Jahre, die Katzen …
Ist dir einmal aufgefallen, dass Teresas Tod gewissermaßen ihre Porträts imitiert hat? Es fehlt kein Detail.
Heute ist mir ihr Lächeln noch rätselhafter vorgekommen als je zuvor. Ihre Augen noch lebendiger. Ihr Gesichtsausdruck wie die Vorahnung des verhängnisvollen Schicksals, das sie erwartete. Ich glaube, ich habe sie immer mit einer zu großen Kälte betrachtet. Ich habe immer nur das gesehen, was ich sehen wollte. Ich bin immer nur an der Oberfläche geblieben.
Teresas Beisetzung war seltsam und traurig, aber wie sollte es auch anders sein? Wir waren nur Sargento Paredes, Arcadio und ich. Papa hat das Grab bezahlt und sich mit einem seiner üblichen Scherze entschuldigt: »Ich betrete keinen Friedhof, nicht einmal als Toter. Mich könnt ihr dann verbrennen und meine Asche in

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