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Die Geister schweigen: Roman (German Edition)

Die Geister schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Die Geister schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Care Santos
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Klassenzimmer, in den Patio, in das Refektorium, in die Kapelle … neun unendliche Monate lang.
    Die Tage verbrachte er in einem heroischen Stoizismus, indem er seine Lust zu weinen unterdrückte. Er war auch nicht in der Lage, die Laien um Hilfe zu bitten, die den Padres bei einigen Aufgaben behilflich waren und die die menschlichere Seite der Einrichtung darstellten. Schon damals hasste es Amadeo, Anzeichen von Schwäche zu zeigen. Er würde lieber sterben, ehe er andere um Hilfe bat. Also verbrachte er die Tage in der Erwartung des Ereignisses, das ihm sein Vater vorausgesagt hatte: seine Verwandlung zu einem Mann. Ein Mann, den nichts erschütterte, der weder die Härte des neuen Tages befürchtete, noch Heimweh nach seinem Zuhause hatte. Ein Mann, dessen Schwäche kein anderer erahnen konnte.
    Dennoch, seine Leistungen brachten ihm gute Noten ein. Er war zwar weder in Mathematik noch in französischer Grammatik ein Genie, aber in Latein war er herausragend, und mit seiner künstlerischen Sensibilität gewann er die Jesuiten für sich. Sein Vater meinte schließlich, Amadeo wäre erlöst und die Jesuiten hätten, so wie er es vorhergesehen hatte, eine Methode gefunden, seinen Erstgeborenen wieder auf den richtigen Weg zu führen. Amadeo war zwar nach wie vor ein lakonischer und eher ungeselliger junger Mensch, aber er gab niemandem Anlass zu irgendwelchen Beschwerden – bis sein Bruder auch in das Internat kam und sich andeutete, dass er zu einem der besten Schüler werden würde.

    Juan Lax Golorons war nicht nur von seinem Aussehen her alles, was man von einem Jungen seiner Herkunft erwartete: hübsch, wohlerzogen, ordentlich, fleißig und klug, darüber hinaus strotzte er nur so vor Lerneifer. Sein Latein war bald so perfekt, dass er Padre Eudaldo bei Tischgesprächen zu Hause in dieser Sprache antworten konnte, und mit seiner Begeisterung für klassische Schriftsteller wurde er, noch ehe er in die Pubertät kam, zu einem Experten für Cicero und Virgil. Im Internat entdeckte er das Theater für sich. Er erbrachte herausragende Leistungen in Geometrie, bei den Festivitäten zum Schuljahresende trug er Gedichte vor, er heimste zahlreiche Preise ein, und die Priester zeichneten ihn mit dem Privileg aus, pünktlich die Glocke im Refektorium zu läuten. In akademischen Belangen war er überall herausragend, aber es waren seine naturgegebene Freundlichkeit und Fröhlichkeit, mit denen er bei Weitem die Persönlichkeit seines Bruders überstrahlte. Vor ihm lag eine glänzende Zukunft, die seine Lehrer wie ihn selbst gleichermaßen hoffen ließ.
    Amadeo indes verstand nicht, wie Juan dies gelang. Und er platzte schier vor Neid.
    Betrachten wir einen späten Nachmittag im Winter 1905. Im Kamin im großen Salon im Hause Lax glimmt noch Asche. Der matte Schein einer elektrischen Lampe – die bereits niemanden mehr beeindruckt – flackert in einer Ecke. Der Regen klopft gegen die bunten Fensterscheiben, die die Abenddämmerung grau aussehen lässt. Die Señora trägt dunkle Kleidung, sie hält ihren Kopf gesenkt, und die goldenen Perlen gleiten durch ihre Finger. Sie sitzt auf ihrem Platz neben dem Kamin. Neben ihr sitzt Violeta und bewegt unablässig im Flüsterton die Lippen.
    Es ist die Stunde, in der gemeinsam der Rosenkranz gebetet wird. Da stört die Türglocke das Gebet. Die Señora verzieht den Mund und setzt eine verdrießliche Miene auf. Dann befiehlt sie so leise, dass man ihre Worte fast mit der Litanei verwechselt, die sie bis eben gebetet hat: »Geh und mach auf, Conchita, und wer auch immer es sein mag, sag ihm, dass er warten muss.«
    Während die Kinderfrau aus dem Salon geht, wird weiter gebetet: »Sancta Maria Mater Dei, ora pro nobis peccatoribus, nunc et in hora mortis nostrae.«
    Concha läuft über den Flur, geht die Marmortreppe hinunter, durchquert die Eingangshalle und lugt durch den Spion, um sicherzugehen, dass keine Gefahr droht. Auf der anderen Seite steht Amadeo. Er ist sechzehn Jahre alt. Der Mann, der er zu sein beginnt, verschlingt die Züge des Jungen, den sie so geliebt hat. Besonders in dieser Nacht, in der er in der zerfetzten marineblauen Schuluniform vor ihr steht, aus der die Hemdschöße herausragen: wankend, vom Regen durchnässt, mit einer Wunde auf der Wange und Blut im Mundwinkel. Er zittert vor Kälte.
    Als ihm Concha die Tür öffnet, huscht er wie ein böser Geist ins Haus.
    »Aber Bonito! Was ist denn mit dir passiert?«, fragt Concha höchst

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