Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
Ziffern, die Staub anhäufen, ohne seitens des Adressaten die geringste Beachtung zu erfahren.
Und so könnten wir durchaus die kleinen Hinweise auf die Existenz eines Menschen durchforsten, der gleichermaßen einer der reichsten Unternehmer der Stadt ist sowie ein Mann, der sich am allerwenigsten für seinen Reichtum interessiert. Wir finden jedoch mehr Vergnügen daran, wie uns das Ticken der Uhr auf dem Sims im Takt wiegt oder wenn wir die geometrischen Muster beobachten, die die Sonne mit dem Verlauf der Zeit auf den Teppich zeichnet.
Nicht der Nachmittag verstreicht, sondern die Jahre. So belanglos wie wir für die Welt sind, nehmen wir ihren Lauf nicht wahr. Ein Blinzeln bedeutet ein Jahrzehnt. Der Flug einer Mücke durch den Raum dauert fünf Jahre. Für uns Abwesende bedeutet die Zeit nichts: Sie ist unser kleiner Sieg. Wenn wir wieder aufblicken, stehen auf dem Schreibtisch weder die Blechdöschen für die Füllhalterfedern noch die Lampe mit den Glasfransen. Die Tintenfässer haben einem luxuriösen Schreibset aus Silber und Gagat Platz gemacht. Conchas Porträt hängt nun an einer Seitenwand. Den privilegierten Platz nimmt inzwischen ein anmutiges Porträt von Doña Maria del Roser ein. Das Telefon ist schon ein Tischgerät: ein Thomson-Houston mit vergoldetem Sprachrohr und Hörer, das auf einem schwarzen Sockel befestigt ist. Ein Zeichen dafür, dass sich die Welt trotz allem weiterdreht.
Der Schreibtisch ist nach wie vor mit Papieren überhäuft, doch inzwischen sind es noch mehr Stapel geworden, noch höhere. Es wäre mühselig und zudem unnötig, sie durchzusehen. Sie enthalten die Buchführung der Fabriken, Kündigungsschreiben, Verhandlungen über Arbeitsbedingungen, kleine Entschädigungen und die vielen Nichtigkeiten, die zum Leben eines großen Unternehmens dazugehören. Wir haben mehr davon, wenn wir uns mit dem Brief eines Schweizer Sanatoriums befassen – in Fribourg –, in dem irgendein Verantwortlicher reichlich Prosa verwendet hat, um sich »im Namen der medizinischen Wissenschaft« dafür zu entschuldigen, dass sie für den »dramatischen Fall keine Lösung anbieten« konnten. Es gibt noch etwas Neues: Auf dem Schreibtisch liegt ein Kruzifix. Das Sonnenlicht strahlt nach wie vor heiter, aber der Teppich fehlt. Es muss Sommer sein. Einer der wenigen Sommer, die Maria del Roser Golorons nicht in der Finca in Caldes d’Estrach verbracht hat. Dafür muss es einen Grund geben. Die Antwort liegt in dem Schweigen. Große Trauer herrscht in dem Haus, von der sich anscheinend das monotone Ticken der Uhr hat anstecken lassen. Irgendwo, nicht weit entfernt, hört man die Frauen des Hauses beim Rosenkranzgebet.
Im Kabinett herrscht eine drückende Hitze, die niemanden stört. Unsere Präsenz ist hier die einzige. Die Tür ist nach wie vor mit dem Schlüssel abgesperrt, auch wenn sie, seit Beginn der Szene bis zu ihrem Ende, hundert Mal geöffnet und wieder geschlossen wurde. Im Moment sehen wir niemanden, doch einige Bewohner des Hauses haben zwischen den Dingen Spuren hinterlassen. Concha war diejenige, die den Zeitungsausschnitt mitgebracht hatte, der nun als zusammengeknüllter Ball im Papierkorb liegt. Es ist nur ein Stück Zeitung, aber für sie bedeutete es sehr viel mehr: eine Hoffnung. Die Seite enthält einen Artikel über die heilenden Kräfte eines gewissen Dr. Mann, eines Franzosen, der sich als »Heiler in verzweifelten Fällen« anpreist. Darin wagte es der Arzt sogar, an seine Kollegen zu appellieren: »Werte Mediziner, ich lade euch ein, mir eure unheilbaren Kranken zu bringen.« Wenn zutrifft, dass Wände hören und sehen können, müssen sie sich immer noch fragen, welcher Kummer Concha dazu brachte, zum ersten und letzten Mal in ihrem Leben ihre Stimme gegen Amadeo zu erheben, und wie er die Kraft aufbrachte, der Kinderfrau zu sagen, dass man nur noch für ein schnelles Ende beten könne. Dann kamen die schlaflosen Nächte. Zwei ganze Nächte verbrachte der Hausherr dort eingesperrt, die Ellenbogen auf die Papiere auf dem Tisch gestützt, das Gesicht zwischen den Händen vergraben, während er heimlich weinte. Am dritten Tag kam er heraus, legte Trauerkleidung an und führte den Leichenzug seiner Schwester Violeta an, die im Alter von sechzehn Jahren an Leukämie gestorben war.
Die Türen blieben die nächsten drei Tage verschlossen. Auf dem Tisch schienen die Gegenstände wie für die periodischen Fluchten ihres Besitzers gemacht zu sein. Die Tageszeitung, die schon vor
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