Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
Vio. Du bist da wirklich nicht die Einzige. Zumindest nicht, was das angeht. Aber zugegebenermaßen, eine Affäre mit einem bekannten Sänger klingt schon aufregend.
Komm, besuch ihn und bring die Geschichte zu einem Ende. Dann erzählst du mir gleich alles und lebst dein Leben weiter. Deine Kinder und deine Mutter, wir alle brauchen dich!
Ich schicke dir einen Haufen Küsse! Auch von Jason.
Mama
XIX
Im Oktober 1912 berichteten die Zeitungen über die heldenhafte Ankunft der griechischen Truppen an den serbischen Grenzen, wo sie gegen die osmanischen Soldaten kämpfen sollten. Die Detailfreude, mit der die Überfälle auf Züge in Nebelschwaden, die Diebstähle feindlicher Fahnen, die Explosionen von Dynamitbomben mitten in der Nacht oder der Anblick der griechischen Flotte, die vor der Küste von Lemnos kreuzt, beschrieben wurden, führte bei Amadeo zu der gleichen Erregung, die er als kleiner Junge verspürt hatte, wenn ihm Concha Geschichten aus ihrem Heimatdorf erzählte. Doch die Nachricht, die auf derselben Seite stand und die über Eisenbahnarbeiter auf der Strecke Madrid–Zaragoza informierte, die mit ihren Forderungen für Ärger sorgten, löste bei ihm andere Empfindungen aus. Er schlug die Zeitung zu, trank einen Schluck von seinem allmorgendlichen tiefschwarzen Kaffee, zog den Gürtel seines seidenen Morgenmantels enger und fragte sich allmählich, welche Gefühle ihm wohl dieser Tag bescheren würde. Da ging die Tür auf, ohne dass jemand angeklopft hätte, und Maria del Roser betrat in einem Kleid aus Wildseide mit rosigen Wangen die Szene.
»Guten Morgen, mein Junge, kann ich hereinkommen?«
Die Frage war überflüssig, schließlich war Maria del Roser bereits eingetreten und nahm gerade Platz. Angesichts des vielsagenden Schweigens ihres Sohnes sah sich die Mutter zu der Frage genötigt: »Störe ich?«
»Ich wollte gerade ins Atelier gehen«, erwiderte Amadeo und machte Anstalten aufzustehen.
Maria del Rosers Hand packte ihn energisch am Arm. »Bitte, nur eine Sekunde«, bat sie. »Ich muss mit dir etwas Wichtiges besprechen.«
Amadeo lehnte sich wortlos wieder zurück.
»Es geht um deinen Bruder. Mir kommt er in letzter Zeit recht niedergeschlagen vor. Er isst kaum.«
»Vermutlich ist er verliebt, Mutter.«
»Davon gehe ich aus! Aber trotzdem. Vor ein paar Monaten, als er sich verliebt hatte, da war er besserer Laune.«
Die lebhaften kleinen Augen von Maria del Roser erfassten die Schreibtischoberfläche nebst den darauf liegenden Utensilien: die Schreibtischauflage, das Tablett sowie der Löscher aus Bleikristall, die silbernen Tintenfässer, die elektrische Lampe mit den Glasfransen … im Großen und Ganzen sah es so aus wie damals, als ihr Rodolfo noch lebte. Dennoch kam ihr alles so fremd vor, als wäre dies ein anderer Ort. ›Aber vielleicht bin ich ja auch die Fremde hier‹, sagte sie sich selbst.
Von den indiskreten Blicken seiner Mutter beunruhigt, gab Amadeo vor, ein wenig Ordnung in seine Papiere zu bringen. Er bildete Stapel, wobei er peinlichst darüber wachte, welche Papiere nach oben und welche nach unten gelangten. Ihn erschreckte die Unbekümmertheit, mit der seine Mutter hier hereinplatzte, alles betrachtete und einfach irgendein Dokument an sich riss, das sie interessant fand und dann neugierig begutachtete, während sie die Augen zusammenkniff, als wären seine privaten Unterlagen irgendwelche Familienfotos von allgemeinem Interesse. Um zu vermeiden, dass sie erblickte, was sie nicht sehen sollte, öffnete Amadeo die rechte Schreibtischschublade und legte einen der Papierstöße hinein.
»Willst du mal stillhalten?«, schalt seine Mutter. »Du machst mich ganz nervös. Schau mal, das ist ja das Siegel der Familie Brusés!«
Sie hielt eine Karte aus edlem Briefkarton, die in Reichweite ihrer Hände lag, vor ihre Augen und las den Text:
Sehr geehrter Señor Lax,
hiermit möchte ich Ihnen den Auftrag erteilen, von meinen sieben Stiefkindern und von mir Porträts anzufertigen. Bitte besuchen Sie mich so bald wie möglich, damit wir bei der Gelegenheit die Bedingungen besprechen können. Richten Sie Ihrer Mutter und Ihren Geschwistern meine besten Empfehlungen aus.
Mit freundlichen Grüßen,
Doña Matilde Bessa,
Witwe von Don Casimiro Brusés, Reeder und Kaffeehändler
»Sieh mal an«, bemerkte Maria del Roser. »Die Brusés sind eine angesehene Familie. Es täte dir gut, diesen Auftrag anzunehmen.«
»Danke, Mutter. Ich werde das beherzigen. Gibt es noch
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