Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
erwartet hätte: Bande der wahren Dinge, die unabhängig von Besitz oder sozialem Status existieren.
Selbstverständlich gab es im Hause Lax Menschen, die den neuen Lauf der Dinge nicht verkrafteten: Eutimia zum Beispiel.
»Sie gibt nur vor, stumm zu sein. Für mich ist sie eine falsche Schlange. Wir können nur hoffen, dass ihr außer der Stimme nichts fehlt. In diesem Haus ist kein Platz für freche Leute«, lästerte diese über Concha.
Sie tat dies vor den übrigen Bediensteten, und es war ihr egal, dass die Betroffene auch anwesend war. Sie schimpfte über die Amme, wenn die Señora sie nicht hörte und wenn sie mit ihren Dingen beschäftigt war, sogar wenn sie an dem großen Küchentisch saß, auf dem immer eine makellose Tischdecke lag, und Karten legte. Concha hörte sehr wohl Eutimias Bemerkungen, das war unumgänglich, aber sie wagte nie, etwas zu sagen. Die Haushälterin strahlte eine Macht aus, die sie einschüchterte. In den ersten Monaten im Hause Lax war Eutimia die einzige Person, die ihr Angst einflößte und von der sie sich schlecht behandelt fühlte.
Die Haushälterin hatte Conchas Schweigen durchaus durchschaut. Von morgens, wenn sie aufstand, bis abends, wenn sie zu Bett ging, sprach die Amme kaum ein Wort. Andere sprachen für sie, oder das meinte Concha zumindest, und sie hörte ihnen zu und passte auf, dass ihr nichts entging. Niemand bekam das mit. Die meisten Bewohner des Hauses ignorierten sie völlig. Verstummen war ihre einzige Waffe gegen das Unbekannte.
Dabei war es gar nicht so merkwürdig, dass niemand Concha beachtete. Schließlich und endlich verstrich ihr gesamter Tag, ohne dass jemand sie zu Gesicht bekam, außer Amadeo und von Zeit zu Zeit auch die Señora. Sie hatte andere Aufgaben als das gesamte übrige Personal, und das Gleiche galt auch für ihre Arbeitszeiten. Sie bewegte sich absolut frei in einigen Bereichen des Hauses, in die die übrigen Bediensteten kaum je einen Fuß setzten. Sie bekam besseres Essen als alle, und zudem zu ihren eigenen Zeiten. Concha erlebte die Vorzugsbehandlung, die der Person gebührt, in deren Händen das Schicksal des Erstgeborenen der Familie liegt. Später erst erfuhr Concha, dass andere Ammen solche Privilegien einforderten, bevor sie in einem Haushalt in Stellung gingen, aber sie erhielt alles einfach so, wie ein Geschenk, das sie meinte, nicht verdient zu haben; und auch wenn sie immer wusste, dass nichts davon ihr gehörte oder ihr je gehören würde, verstand sie es zu genießen.
Eutimia hingegen ertrug es nicht, dass diesem zugelaufenen Mädchen Privilegien zuteilwurden, die sie selbst nie erfahren hatte. Sie war innerlich von Neid zerfressen.
»Pass nur auf, sobald ich herausbekomme, dass du keine Milch hast, schneide ich dir mit dem Zerlegemesser die Brust ab, damit das einmal klar ist!«
Conchas Antwort darauf war ihr erstes Schweigen.
Sie wäre niemals auf die Idee gekommen, jemanden zu hintergehen, und schon gar nicht die Señora, die einzige gütige Person, die sie seit langer Zeit kennengelernt hatte. Ebenso tat allein schon die Vorstellung, Amadeo zu schaden, in ihrem Inneren einen Abgrund der Angst auf.
Anfangs verstrich ihre Zeit in einer Art friedfertiger Blase. An einigen Tagen ließ sie sich nur ein paar Minuten zum Mittagessen in der Küche blicken und vielleicht noch kurz am Nachmittag, wenn der Säugling sie zur Ruhe kommen ließ. Erst abends stieg sie die Treppe in das Untergeschoss hinunter, wo sie bald ihr eigenes Zimmer beziehen konnte. Aber dank einer Entscheidung der Señora tat sie dies nicht allein: An einem frühen Morgen, als Amadeo so lange jammerte, bis er ihre Geduld endgültig erschöpft hatte, hämmerte Maria del Roser im Nachthemd gegen Conchas Tür und bat sie, sich um den Kleinen zu kümmern, weil sie selbst ansonsten wahnsinnig würde. Von da an verbrachte Amadeo seine Nächte bei Concha und dem übrigen Personal im Untergeschoss.
Den Tag über hielten sich beide, die Amme und der Erstgeborene der Familie, in dem sogenannten Spielzimmer auf: ein Raum im Obergeschoss, der etwas schmaler als wünschenswert war und der zu anderen Zeiten der kleine Empfangssalon einer Urgroßmutter gewesen war, deren offenkundigster Beitrag zur Familiengeschichte darin bestand, alles mit Spitzenbordüren einzufassen oder mit Häkeldeckchen auszustatten. Dieser Raum war im Winter sonnig und im Sommer geschützt. Er war mit pompösen Simsen dekoriert, die sich keineswegs in die übrige Architektur einfügten.
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