Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
die gleichermaßen schön wie ordinär war.
All diese Ingredienzien verwandelten die Mittagszeit in eine Galavorstellung, bewundert von einer Menschenmenge, die sich barfuß, in Hosen, die nur mit Lederriemen zusammengehalten wurden, mit hungerbleichen Wangen und von Kohle geschwärzten Gesichtern täglich neben den Spaziergängern drängte, um die reichen Leute aus der Nähe zu betrachten.
Concha präsentierte ihr inzwischen elf Kilo schweres Baby, ihr goldenes Amulett und ihr aufrichtigstes Lächeln. Noch nie hatte sie der Lauf der Zeit so wenig gekümmert, noch nie war sie so glücklich gewesen.
Wenn sie damals Amadeo betrachtete, hatte sie schon eine Vorahnung davon, was ihnen das Schicksal bereithielt. Die Umstände hatten ihr die Ehre zuteil werden lassen, Zeugin eines anderen Lebens zu sein. Zugleich war sie Ratgeberin, Vertraute und vielleicht die einzige Person, die den älteren der Brüder Lax bedingungslos lieben konnte, obwohl sie ihn so gut kannte. Concha konnte nichts dagegen ausrichten. Amadeo würde immer ihr Geschöpf sein, und die beiden wussten das. Ein verletzlicher, zorniger, herausragender Junge … immer anders als die anderen, immer abseits von den anderen, wenn nicht sogar konträr zu ihnen. Immer unverstanden. Absichtlich oder unvermeidlich allein.
Amadeo erwiderte ihre Gefühle auf seine Weise. Nach ihrem Tod vergoss er zahllose Tränen. Sie war die einzige Frau in seinem Leben, die er beweinte. Jahre zuvor hatte sie ihm für eines seiner ersten Porträts Modell gestanden, dem er den Titel Der Engel der Kindheit gab. Dieses Gemälde war seine einzige Möglichkeit, ihr zu zeigen, wie viel sie für ihn bedeutete.
Dem Begräbnis des Engels der Kindheit konnte dann fast niemand beiwohnen. Conchas schwieriger Junge war inzwischen zu einem launenhaften Mann geworden, der weit entfernt lebte. Bei der Trauerfeier gab es weder die Worte noch Gesänge, die sie sich so oft gewünscht hatte, und ihr Amadeo hielt keine Rede. Es war ein schneller, fast heimlicher Gottesdienst, und einzig und allein zwei Menschen begleiteten die ehemalige Amme und Kinderfrau zu ihrer letzten Ruhe: Aurora und Higinio. Aurora widerfuhr die Ehre, die letzte Kammerfrau zu sein, die im Haus der Familie Lax arbeitete. Higinio war, gewissermaßen, der Retter von allem. Die beiden weinten aufrichtige Tränen.
Conchas Beisetzung fand am 24. Juli 1941 statt; damals hatten die neuen Zeiten die Welt, zu der einst die Familie Lax gehörte, fast vollständig zerstört. Der Name Amadeo Lax, der in einer Welt berühmt war, die sich durch nichts mehr beeindrucken ließ, war alles, was aus diesen besseren Zeiten übrig geblieben war. Das Haus stand zwar noch, und sie verteidigten es, aber nachts herrschte in den Räumen ein überwältigendes Schweigen. Ein Schweigen, das die Abwesenden hinterlassen, wenn es noch jemanden gibt, der an sie denkt.
Die Zeit war weitergegangen, gefühllos, und das Schlimmste war, dass dieser Prozess kein Ende nahm.
Aber genauso wie uns das Leben mit einem abrupten Ende überraschen kann, so schenkt es uns zuweilen auch eine neue Chance. Einen Neubeginn.
Schweigen. Das Tor knarrt. Ein Wesen überschreitet die altehrwürdige Schwelle, blickt sich überrascht um und wagt es, in dem Staub, der auf dem Marmorboden in der Eingangshalle liegt, eine Spur zu hinterlassen.
Es dringt in das Geheimnis ein. Es geht weiter.
Immer wenn so etwas vorkommt, regen wir uns auf, wir Steine und Geister.
Der Engel der Kindheit , 1905
Öl auf Leinwand, 75 ×× 40 cm
Barcelona, MNAC, Sammlung Amadeo Lax
Concha Martínez Cruces (1870–1941) kam als knapp zwanzigjährige Amme ins Haus der Familie Lax, als Amadeo Lax erst wenige Monate alt war. Sie blieb in den Diensten der Familie und arbeitete für sie als Kinderfrau, Kammerfrau und Gesellschafterin von Doña Maria del Roser Golorons de Lax – der Mutter des Künstlers. Später übernahm sie noch einmal das Amt der Kinderfrau für Modesto, den einzigen Sohn des Malers, und zwar bis der Bürgerkrieg ausbrach und der Junge nach Frankreich ins Exil kam. Sie starb 1941 an einer Lungenentzündung. Die Hausangestellte wurde von mehreren Generationen der Familie außerordentlich geschätzt und spielte sicherlich eine weitaus einflussreichere Rolle, als es dieses einzige Porträt vermittelt.
Es handelt sich hier um ein Jugendwerk, das Amadeo Lax im Alter von nicht einmal fünfzehn Jahren malte. Zudem ist es eines seiner ersten Bildnisse von Familienangehörigen, die in den
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