Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
Zwischen diesen beiden Welten, der Überladenheit des kleinen Salons und der Kargheit des Dienstmädchenzimmers, verstrichen Amadeos erste Lebensjahre, bis zu dem Zeitpunkt, als sie in das neue Haus umzogen und Maria del Roser beschloss, einige notwendige Änderungen vorzunehmen.
Aber in den Tagen, von denen wir gerade sprechen, war Amadeo noch Einzelkind, und Concha war stolz darauf, dass er nach nur einem Monat fünf Pfund mehr auf die Waage brachte. Auch ihre eigene ausgemergelte Figur wirkte fülliger, und sie sah gesünder und eher ihrem Alter entsprechend aus. Im Gesicht von Doña Maria del Roser war der besorgte Blick einem glücklichen Lächeln gewichen.
»Ach, Conchita, du bist einfach unser Engel! Du bist ein Geschenk des Himmels!«
Ja, die Streitereien der anderen Hausangestellten betrafen sie nicht weiter. Ihr Reich war dieses Zimmer im Obergeschoss, das anfangs Balsam für ihre Wunden war. Morgens, wenn sie den Säugling anlegte, brachte ihr Carmela das Tablett mit dem Frühstück: Eier, frisches Weißbrot, zuweilen ein wenig roher Schinken oder Weißkäse, Obst und Milch. Als sie die Speisen zum ersten Mal erblickte und begriff, dass sie für sie bestimmt waren, brach Concha in Tränen aus; sofort darauf fühlte sie sich lächerlich. Da hatte sie so viele Unglücksfälle durchgemacht und heulte nun wegen ein paar Leckerbissen? Hatte das Leben der reichen Leute sie in so wenigen Tagen dermaßen verweichlicht? Noch standen Zichorien auf der Liste der verbotenen Speisen – Kaffee war den Herrschaften vorbehalten –, es hieß, davon würde die Muttermilch bitter, ebenso wie von Tee, Spargel, Essig und noch einigen anderen Dingen. Aber auch ohne diese Gerichte bot ihr Speiseplan einen nie gekannten Luxus.
Nach dem Frühstück wählte sie nach ihrem eigenen Geschmack aus dem reichlich bestückten Kleiderschrank eine passende Kombination aus und nahm sich Zeit, den Kleinen für den täglichen Spaziergang zurechtzumachen. Doña Maria del Roser verließ sich sehr bald auf Conchas Geschmack und griff niemals in diese Arrangements ein, die für die Amme den Höhepunkt des ganzen Tages darstellten. Dann zog sich Concha selbst an, wobei sie sehr auf die Details achtete: die dunkelblaue Uniform, die blütenweiße Schürze, das gestärkte Häubchen, die frisch polierten Schuhe sowie das goldene Amulett mit der Jungfrau von Montserrat, ein Geschenk der Señora zu ihrem Geburtstag. So ausstaffiert, legte sie den Jungen in seinen Kinderwagen, und sie fuhren aus.
Im Schneckentempo ging es durch die Calle Riera Alta und die Calle Ferran, wo sie die anderen Kinderfrauen begrüßte. Sehr bald kannte sie die meisten von ihnen vom Sehen. Dabei genoss sie die laue Luft, die nach Meer roch, und strahlte unermüdlich vor sich hin. Später kamen die jungen Mädchen im heiratsfähigen Alter hinzu, einige von ihnen in Begleitung ihrer Mütter, andere mit der Gouvernante oder der Hauslehrerin, und es herrschte ein einziges Rascheln von Seiden- und Taftstoffen der Spazierkleider. Einige glänzten in ihrer Einfachheit neben dem übertriebenen Putz der anderen, und jeder Interessierte konnte bei dieser Parade etwas für seinen Geschmack finden. Gegen ein Uhr verließen auch die Damen die Häuser in ihren Kutschen, in Begleitung von Kutscher und Lakai, aber auch einige Herren zeigten sich, entweder zu Pferde oder – zumindest die moderneren – auf dem Fahrrad.
Die Promenade bot ein Defilee von Galanterien und Eleganz: Fortwährend wurden Zylinder gelüpft, Handschuhe aus russischem Leder bewegten sich schnell, und Floskeln mit Grüßen für die ganze Familie gingen flüssig über die Lippen. Dabei konnten zu jener Zeit all diese Dinge in der Enge der Altstadt gar nicht angemessen strahlen, und genau deshalb überlegten die wohlhabendsten Herren, wohin sie sich begeben könnten, um besser gesehen zu werden.
Bei alldem bewahrte manch junge Dame heimlich ihr feines Lächeln für bessere Gelegenheiten auf, und manch junger Herr kehrte von seinem Spaziergang mit bedrücktem Herzen zurück. Andere, womöglich junge Männer aus gutem Hause auf der Suche nach Schönheiten, denen sie den Hof machen konnten, interpretierten eine Geste, die kaum wahrnehmbar war, als eindeutig und ließen sich von der Euphorie eines Siegers mitreißen. Andere wiederum echauffierten sich, wenn eine Kutsche vorbeifuhr, in der die Geliebte irgendeines jungen Erben es wagte, sich öffentlich zu präsentieren, um dann beim Anblick der Frau zu verstummen,
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