Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
Tag besuchte der junge Mann die Acht-Uhr-Messe und ließ sich immerhin beim Mittagessen blicken, wo er allerdings kein Wort mit seinem Bruder sprach. Maria del Roser dankte dem Himmel für die wundersame Fürsprache seines Gesandten auf Erden. Sie war zufrieden mit dem Verlauf der Dinge, bis sie bei Juans Nachricht über sein Priestertum erstarrte. Nun verfluchte Maria del Roser die Schäfchen, die vom Weg abgekommen waren, und die Begierde der Hirten, sie wieder auf den rechten Weg zurückzubringen. Und wie schon so manches Mal seit langer Zeit verfluchte sie zudem die Reihenfolge, in der ihre Söhne auf die Welt gekommen waren. Alles wäre ganz anders gekommen, wenn Juan der Erstgeborene gewesen wäre.
»Aber mein Sohn, was soll das denn?«, empörte sie sich, als sie die Neuigkeit erfuhr. »Du hast dich doch sonst nie besonders für religiöse Dinge interessiert …«
»Nun hat Gott hat mich gerufen, Mutter. Ich würde sogar sagen: Er hat mich gerettet.«
»Gerettet? Wovor denn, mein Junge?«
»Das ist nicht mehr wichtig. Tatsache ist, dass er es getan hat und dass ich verstanden habe, auf ihn zu hören. Padre Eudaldo hat mir geholfen, Gottes Stimme zu vernehmen.«
»Aber was wird denn nun aus deiner glänzenden Zukunft? Willst du die etwa verschenken?«
»Ganz im Gegenteil. Ich nehme meine Zukunft dorthin mit, wo ich nützlich sein kann.«
Maria del Roser verzog die Lippen. Juan wusste durchaus, dass sein letzter Kommentar ihr nicht gefiel, und griff nach ihren Händen.
»Ich sage das nicht Ihretwegen, Mutter. Sie haben mich immer unterstützt. Aber es gibt Dinge, für die gibt es weder jetzt noch später eine Lösung. Tun Sie nicht so, als wüssten Sie das nicht.«
Maria del Roser wusste das sehr wohl, genauso wie sie wusste, dass alle verdeckten Anspielungen auf Amadeo zielten. Trotz allem weigerte sie sich zu akzeptieren, dass es keine Lösung gäbe. Nach so vielen Jahren verstand sie immer noch nicht, worum es bei dem Streit ihrer beiden Söhne eigentlich ging. Und selbstverständlich gab sie sich immer noch für alles die Schuld.
Juan war von seinem Entschluss nicht abzubringen. Mit zwanzig Jahren trat er in das Jesuitenseminar ein. Zwei Jahre später empfing er die ersten Weihen – darunter auch die damals noch übliche, als Exorzist agieren zu können. Er studierte weiter Jura und zog wenig später zum Theologiestudium nach Madrid. Am 30. September 1920 wurde er schließlich zum Priester geweiht, einem Tag, an dem die schwüle Hitze kaum Glanz für Festivitäten jeglicher Art verhieß, ekklesiastische eingeschlossen. Die überaus prachtvolle Zeremonie fand unter dem Vorsitz von Bischof Juan José Laguarda in der Kathedrale von Barcelona statt. Auf der Kirchenbank mit den Familienangehörigen saßen außer Maria del Roser auch Padre Eudaldo, Concha und ein halbes Dutzend entfernter Verwandter. Die meisten Hausangestellten waren auch dabei, saßen aber weiter hinten. Zu ihrer eigenen Überraschung war die Matriarchin sehr gerührt, als ihr Sohn vor dem Bischof kniete. Für den Rest ihrer Tage sollte sie immer den Moment, in dem Seine Exzellenz ihrem Juan die Stola und die Kasel inmitten der weihrauchgeschwängerten Luft auflegte, als einen der bewegendsten Momente ihres Lebens in Erinnerung behalten.
Amadeo konnte bei der Priesterweihe seines Bruders nicht dabei sein. Auch für ihn war das Jahr 1920 ein Jahr von Bedeutung: Er reiste zum ersten Mal nach New York, nahm einen Auftrag der Hispanic Society of America an und verkaufte zwei Dutzend Gemälde an amerikanische Kunstsammler, die dafür aberwitzige Preise zahlten. Dieser Umstand wiederum weckte das Interesse von mehreren Museen, und einige Tage lang war der Name Amadeo Lax in aller Munde. Das hätte gewiss noch länger angehalten, wenn ihn sein Desinteresse am gesellschaftlichen Leben nicht wieder nach Hause getrieben hätte.
Diese Amerikareise erwies sich zudem als entscheidend für die persönliche Entwicklung des Künstlers. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass er mit seinen mehr als dreißig Jahren allmählich ein reifer Mann war, der in sein Ansehen investieren sollte. Also beschloss er, in seinem alten Lotterleben ein wenig aufzuräumen. Noch ehe er sich in New York einschiffte, schickte er Trescents ein Telegramm.
Auftrag, die Wohnung in der Rambla de Catalunya schnellstmöglich zu räumen. Findet neue Verwendung bei meiner Rückkehr.
Während Amadeo Lax auf dem Erste-Klasse-Deck des Luxusdampfers Marqués de Comillas , mit dem
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