Die Geister schweigen: Roman (German Edition)
Tagen der Wahrheit entsprach. Dieser Zustand hielt ein Jahr lang an, das einzige Jahr in meinem ganzen Leben, in dem ich das pure Glück erlebt habe. Zwölf Monate, dann wurde er meiner überdrüssig. Mit etwas mehr Erfahrung hätte ich es vorhersehen können. Früher oder später haben Männer ihre Spielzeuge satt und ersetzen sie durch neue. Oder noch schlimmer: Sie teilen sie mit anderen Männern.
Der Erste war ein Freund von ihm, ein sehr schüchterner Mann, der mich immer rücksichtsvoll behandelt hat. Ich konnte es nicht ertragen, mich anderen Männern hinzugeben, aber weder Proteste noch Tränen oder Flehen halfen, Amadeo zwang mich dazu, mich auf diese Weise zu erniedrigen. Er selbst fand sogar Vergnügen daran, auf diese schändliche Weise mit mir zu prahlen. Anfangs hat er mir seine engsten Bekannten und Freunde geschickt. Dann hat er den Kreis erweitert: Männer, denen er verpflichtet war, Kunden, Bankiers … Er hat mir sogar den alten Theaterimpresario geschickt, der sich aufspielte, als wäre er mein Besitzer. Ich habe mich bei diesem Mann so harsch verhalten, dass er am nächsten Tag meinen Vertrag kündigte. Amadeo machte mir deswegen schwere Vorwürfe. Er erinnerte mich daran, dass ich nicht das Recht hätte, irgendeinen seiner Freunde zu verschmähen, und drohte mir, mich zu verlassen. Doch dann machte er das Beste aus der Situation: Er beschaffte mir einen Vertrag für das Teatro Arnau, wo ich zwanzig Peseten pro Abend erhielt. Amadeo hat mich niemals um einen Teil meiner Gage gebeten, aber eines Tages erfuhr ich, dass einige meiner Besucher dafür bezahlen mussten, dass er ihnen die Schlüssel für meine Wohnung gab. Und zwar kräftig. Eine Nacht mit Bella Olympia war ein teures Vergnügen, aber in diesen Jahren des Überflusses konnte sich mancher Dummkopf solch einen Luxus leisten – zu meinem Unglück.
Ich war noch keine zwanzig und besaß mehr Geld, als ich ausgeben konnte – aber schon ging es mit meinem Leben bergab. Mein Leben war ein einziger Exzess: Ich speiste in den besten Restaurants, ich war sehr beliebt, ich wohnte in einer der schönsten Straßen von Barcelona, die interessantesten Männer begehrten mich. Doch hinter den Kulissen dieses glanzvollen Lebens gab es noch eine andere Wirklichkeit: das Übermaß an Alkohol und Kokain, Amadeos andauernde Erniedrigung, die mich inzwischen nicht einmal mehr schmerzte. Ich weiß gar nicht, wann Amadeo zum letzten Mal in mein Bett gekommen war. Er redete über Spaniens Neutralität im Krieg, die katalanischen Industriellen hofften, dass der Krieg niemals zu Ende ging. Bei dieser letzten Begegnung habe ich einen anderen Amadeo kennengelernt. Einen Mann, der mich grob und unfreundlich behandelte. Er tat mir von der ersten Umarmung an nur weh. Er stank nach Alkohol. Mit seinem letzten Luststöhnen vermischten sich die unverschämten Provokationen der anderen Male mit Tränen. Er klammerte sich an mich und weinte mit der Verzweiflung eines kleinen Jungen, aber mit der Kraft eines erwachsenen Mannes, und sagte immer wieder: »Verzeih, verzeih mir, verzeih mir …«
Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich Angst hatte, ihm in die Augen zu sehen. Heute weiß ich nicht mehr, was ich in ihnen entdeckte, aber es war etwas Fürchterliches: eine Unruhe, die nicht zu besänftigen war.
Es klingt vielleicht merkwürdig, aber in jener Nacht spürte ich seine Langeweile und sein geschwundenes Interesse an mir. Und noch etwas, was tiefer geht: seine Schwäche. Es war das einzige Mal, dass ich die wahre Gestalt des Menschen erkannte, der mein Beschützer und mein Unglücksbringer zugleich war. Das war nicht mehr der selbstsichere Mann, den ich bewundert hatte, sondern ein schwaches Wesen, der aus dem Schwindel seine einzige Verteidigung gemacht hatte. Ein Mensch, der an sich selbst erkrankt war.
Als ich Monate später Besuch von seinem Bevollmächtigten erhielt, verwechselte ich diesen zunächst mit einem meiner Besucher. Doch dann bemerkte ich dessen Verwirrung. Sein Augen glitten über meine Aufmachung – und über das, was sie verbarg –, ohne zu wissen, wohin sie sehen sollten. Seine Stimme zitterte. Erst später erkannte ich in ihm den Maulwurf-Mann. Wie beim ersten Mal kündigte er mir mit seinen kurzsichtigen Augen und in seinem grauen Anzug eine große Veränderung für mein Leben an. Diesmal war er gekommen, um mich aus meiner Wohnung zu werfen. Der arme Mann quälte sich sehr, bis er mir endlich die Nachricht überbracht hatte. Ich habe
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