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Die Geister schweigen: Roman (German Edition)

Die Geister schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Die Geister schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Care Santos
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dem Juan ins Internat der Jesuitenpatres zurückkehrt, versperrt Amadeo ihm auf dem oberen Treppenabsatz den Weg und schnauzt ihn an: »Ich werde dir niemals verzeihen. Nicht einmal in tausend Jahren.«
Barcelona, 12. Februar 1930
Sehr geehrte Dame,
zunächst möchte ich Ihnen mit diesem Brief nachträglich meine Glückwünsche zu Ihrer Heirat übermitteln, von der ich aus den Gesellschaftsnachrichten erfahren habe. Ich habe den Berichten entnommen, dass Ihre Hochzeit eine der großartigsten gewesen ist, die die Stadt in den letzten Jahren erlebt hat, noch dazu im Chor der Kathedrale, wie wundervoll. Natürlich konnte dies angesichts der Schönheit der Braut auch gar nicht anders sein.
Werte Teresa, bitte verzeihen Sie mir, dass ich es wage Ihnen zu schreiben. Ich fürchte, mein Brief enthält keine guten Nachrichten für Sie. Aber vielleicht wird Ihr Groll gegen mich gemildert, wenn Sie erfahren, dass ich, während ich mich Ihnen in diesem Brief anvertraue, im Sterben liege, und dass diese Zeilen meine einzige Möglichkeit sind, meine Seele von dem furchtbaren Kummer zu befreien, der mich seit Jahren begleitet. Meine Worte erreichen Sie, wenn ich schon nicht mehr auf dieser Welt bin. Dieses Wissen verschafft mir in meinen letzten Stunden die Ruhe, die ich seit sehr langer Zeit nicht mehr gefunden habe. Ich bitte Sie in aller Bescheidenheit und – auch wenn Ihnen das merkwürdig vorkommen mag – in aller Liebe um Verzeihung.
Ich wende mich an Sie wie an eine Schwester, Teresa, denn so fühle ich Ihnen gegenüber. Schließlich haben wir beide etwas viel Intimeres geteilt, als das, was zwei Frauen eint, die unter einem Dach auf die Welt gekommen sind: die Liebe zu demselben Mann. Bitte seien Sie unbesorgt. Ich weiß sehr wohl, dass Sie und ich, sowohl in diesem wie in anderen Belangen, nicht zu vergleichen sind. Ich bin für ihn in einer Phase der Verschwendung und der Jugend nur ein weiterer Luxus gewesen. Als ich ihn kennenlernte, waren Sie noch ein kleines Mädchen. Ich habe ihn vor etwa zehn Jahren zum letzten Mal gesehen. Unsere Wege haben sich also niemals gekreuzt. Ich stelle keine Bedrohung für Sie dar. Weder für Sie noch für sonst jemanden.
Mit seinen kaum mehr als zwanzig Jahren war Amadeo ein beeindruckender Mann. Er strahlte diese Unnahbarkeit eines kompromisslosen Gönners aus. Ich war ein sechzehnjähriges Dummerchen, hübsch und ehrgeizig, und hatte plötzlich das Pech, dass mir beide Söhne des verstorbenen Fabrikbesitzers gleichzeitig den Hof machten. Sie sind eine Frau, so wie ich, und vielleicht haben Sie sich selbst schon einmal in einer ähnlichen Lage befunden. Dann verstehen Sie, welche Gefahr so ein Übermaß an Aufmerksamkeit birgt. Ich habe damals den Fehler begangen, mich für etwas Besseres zu halten. Von heute auf morgen erschien mir mein Leben als Arbeiterin in einer Textilfabrik und das Leben, das meine Eltern immer geführt hatten, minderwertig. Juan redete mit mir über Liebe, Gefühle und eine gemeinsame Zukunft, doch Amadeo versprach mir Ruhm, Erfolg und Reichtum. Ich beschloss, nicht mehr Tag für Tag zuzusehen, wie sich die Baumwollspulen drehten und dabei meine Jugend zu vergeuden. Ich wollte mich niemandem mehr unterwerfen und den vorgegebenen Weg verlassen.
Meine damalige Dreistigkeit hat wohl dazu geführt, dass Juan auf mich aufmerksam wurde. Er war anders, bescheiden, charmant. Er wirkte nicht wie der junge Fabrikantensohn, der er schließlich war, sondern wie einer der Arbeiter, nur klüger und gebildeter. Er hat sich wirklich für uns und unsere Bedürfnisse interessiert. Er war der festen Überzeugung, dass die Revolution der Arbeiter stattfinden müsse und dass die Firmenbesitzer diese Revolution begreifen und unterstützen sollten, um endlich die elendigen und entbehrungsreichen Lebensbedingungen zu beenden. Juan hat seine Jugend – er war damals achtzehn – in den Fabriken zugebracht. Er hat die Arbeiter befragt, die Altgedienten ebenso wie die Jüngeren, und ihre Antworten in einem Heft voller Zahlen, Zeichnungen und Notizen vermerkt. Er hat allen Arbeitern zugehört und ihnen seine Zeit und seine Aufmerksamkeit geschenkt.
Er war einer dieser Männer, die ihrer Zeit voraus sind. Als er zum ersten Mal in die Fabrik kam, fiel mir auf, wie er mich dabei ansah. Einige Wochen später hat er mir seine Liebe erklärt. Ich habe ihm zunächst nur die kalte Schulter gezeigt, mit der Überheblichkeit eines Menschen, dem ein anderer sein Herz zu Füßen legt. Juan war

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