Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Geister schweigen: Roman (German Edition)

Die Geister schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Die Geister schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Care Santos
Vom Netzwerk:
der erste Mann, der mir seine Gefühle gestand. Der erste Mann, der verrückt nach mir war. Und wie! Schließlich hat er mich mit seiner Beharrlichkeit, mit seinen geschliffenen Worten und vor allem mit seinem Auftreten als kultivierter Revolutionär erobert. Unsere Liebelei war harmlos und kurz, typisch für zwei junge Leute, die scheinbar ebenbürtig waren, aber keine Ahnung vom Leben hatten. Als er mir sagte, dass er der Sohn von Don Rodolfo Lax war, habe ich ihn ausgelacht. Ich habe ihm einfach nicht geglaubt. Er war so anders als die jungen Männer, die ich kennengelernt hatte. Und dann kam Amadeo.
Ich habe niemals zuvor einen Mann von einer solchen Distinguiertheit wie Amadeo gesehen, und auch keinen, der darauf so stolz war. Er besichtigte die Fabrik nur einmal, aber sein Besuch hat bei uns einen tiefen Eindruck hinterlassen. Er hatte nichts von der leutseligen Würde seines Vaters, aber auch nichts von der proletarischen Naivität seines Bruders. Er hielt sich für den Patron, und als solcher trat er auch auf. Er ließ keinen Zweifel daran, was er über die Arbeiter dachte, und stand sehr hoch über unserem elenden Dasein.
Ich habe damals den ganzen Tag vor mich hin gesungen. Meinen Kollegen haben die Lieder, meistens freche Couplets, gut gefallen. Mehr als einer hat mir gesagt: »Wie schade, dass du dein Talent in diesen muffigen Fabrikhallen vergeudest. Du solltest besser auf einer Bühne stehen.« Abends träumte ich davon, in den Theatern Triumphe zu feiern, so wie Pilar Alonso, La Fornarina, Raquel Meller oder so viele andere Künstlerinnen, und davon, mit vielen Schrankkoffern durch aller Herren Länder zu reisen und den Applaus unzähliger Männer zu genießen. Ich weiß nicht, was aus meinem Leben geworden wäre, wenn sich meine Wege nicht mit denen Amadeos gekreuzt hätten. Vielleicht hätte ich sogar Juan geheiratet, und wir hätten zusammen Kinder gehabt. Nichts hätte mich glücklicher gemacht, als die Mutter von vielen Kindern zu sein. Vielleicht hätte ich eine Kurzwarenhandlung aufgemacht oder eine Schneiderei; ich konnte immer sehr gut nähen. Wir hätten ein bescheidenes Leben ohne große Überraschungen geführt. Dann wäre ich jetzt nicht hier, im Angesicht des Todes, und würde Ihnen diesen Brief schreiben.
Aber Amadeo hatte andere Pläne mit mir. Hatte er sich einfach in diese widerspenstige Arbeiterin verguckt, die in seiner Fabrik zweideutige Lieder sang? Bekam er auf einmal Lust, mit mir zu spielen, wie die Katze, die zum reinen Vergnügen eine Maus jagt? Oder haben bei seinem Interesse an mir die aufrichtigen Gefühle seines jüngeren Bruders zu mir eine Rolle gespielt? Leider werde ich das niemals erfahren.
Eines Tages schickte er seinen Bevollmächtigten zu mir, einen gewissen Señor Trescents, eine graue Maus, ein Maulwurf in Menschengestalt. Dieser Mann verkündete mir mit sehr unverständlichen Worten, dass ein Theaterimpresario bereit war, mich zu einer Probe für sein neues Varieté einzuladen, und dass ich Amadeo für diese Chance dankbar sein müsse, da dieser mit dem einflussreichen Freund über mich gesprochen habe.
Die Probe fand drei Tage später am Vormittag im Salón Doré statt. Der Wagen des Patrons holte mich an der Fabrik ab und brachte mich zum Theater. Alle in der Fabrik haben mir die Daumen gedrückt. Meine Eltern umarmten mich mit Tränen in den Augen und sagten: »Du wirst es schaffen!«
In dem Wagen der Lax fühlte ich mich so unbedeutend und schmutzig wie noch nie. Die Probe war nur eine Farce. Im Parkett saßen Amadeo Lax sowie ein dicker alter Mann, an dessen Namen ich mich nicht erinnere. Sie forderten mich auf, meine Beine zu zeigen. Das tat ich, aber nur meine Träume vom Ruhm konnten meine Scham und Verwirrung besänftigen.
»Und nun die Brüste«, sagte der dicke Alte dann.
Es kostete mich unglaubliche Überwindung, meine Bluse zu öffnen und zu tun, was sie von mir wollten. Sie überredeten mich dazu, indem sie behaupteten, dass eine Künstlerin zwar ihren Fähigkeiten verpflichtet sei, aber vor allem gut aussehen müsse. Sie sagten, sie hätten keine andere Möglichkeit, als dies persönlich zu überprüfen. Diese Lustmolche!
Natürlich habe ich ihnen dann meine Brüste gezeigt.
»Soll ich Ihnen denn kein Couplet vorsingen?«, fragte ich Dummkopf.
»Wenn dir danach ist …«, meinte der Alte.
Ich habe »Batallón de modistillas« gesungen, das Lied, das den Arbeitern in der Fabrik immer am besten gefallen hat. Sie waren jedes Mal, wenn sie es

Weitere Kostenlose Bücher