Die Geister von Rosehill: Roman (German Edition)
weißt ja, wie er ist.«
Ich blickte von Jeannie zu Nancy Fortune und wußte nicht, wie mir geschah. » Wußte er es einfach? Ich meine, Sie haben ihn nicht angerufen oder so?«
Ihr Lächeln war warm und nachsichtig. »Sie glauben also nicht an das Zweite Gesicht?«
»Na ja …«
»Das werden Sie mit der Zeit schon noch. Der Junge hat eine große Gabe«, informierte sie mich ganz sachlich. »Ich hatte eine Tante, die auch das Zweite Gesicht besaß. Sie wußte immer, wenn ich hinter dem Schuppen geraucht hatte oder wenn ich sonst irgend etwas ausheckte … oft wußte sie es sogar noch vor mir.«
»Und, hatte Sie immer recht?«
»O ja.« Sie bemerkte meinen zweifelnden Gesichtsausdruck. »Es ist im Prinzip alles ganz natürlich. Meine Tante sagte, wir bestünden alle aus Energie, und Energie könne nicht zerstört werden. Sie verändere sich nur. Wenn ein Körper stirbt, wird ein Teil der Energie zu Wärme und Bewegung, aber der Rest bleibt, und es entsteht so etwas wie ein Geist. Menschen, die das Zweite Gesicht haben, sagte meine Tante, seien empfänglicher für die Energie, die uns umgibt – nicht nur für die von Geistern, sondern auch für die der Lebenden. Ein lebendes Gehirn«, erklärte sie weiter, »arbeitet mit elektrischen Impulsen. Wir senden ständig Gedanken aus, so ähnlich wie Fernsehwellen, und ein hellsichtiger Mensch hat eine Art spezielle Antenne und kann sie empfangen.«
Klang vernünftig, räumte ich ein, wenn es auch längst nicht alles erklärte. »Wie kann dann jemand in die Zukunft sehen?« fragte ich. »Hatte Ihre Tante dafür auch eine Theorie?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Sie sah bestimmte Dinge, aber wie sie das machte …« Sie zuckte die Achseln. »Meine Mutter, Gott hab sie selig, die eine gläubige Frau war, hielt Vorahnungen für ein Geschenk Gottes.«
»Tolles Geschenk.« Jeannie zog die Nase kraus. »Robbie hat sie zum Glück nur selten, aber wenn sie ihn überkommen, machen sie ihn wahnsinnig. Er leidet dann unter Alpträumen, der arme kleine Kerl.«
»War er schon immer …« Ich vermied »hellsichtig« und entschied mich statt dessen für den positiveren Ausdruck: »… begabt?«
Jeannie nickte. »Als er klein war, stand er manchmal aufrecht in seinem Kinderbettchen und sprach mit der Wand. Er würde mit einer Dame reden, sagte er. Zuerst dachte ich, er hätte nur eine besonders lebhafte Phantasie, bis er mir diese Dame auf meinem Hochzeitsfoto zeigte und ich begriff, daß er mit meiner Mutter sprach.« Sie lächelte ein wenig wehmütig. »Sie starb im Jahr meiner Hochzeit, bevor Robbie geboren wurde, und wollte wahrscheinlich ihren Enkelsohn sehen. Sie kommt immer noch manchmal zu ihm, aber jetzt, wo er älter ist, erzählt er es mir nicht mehr jedesmal. Er hat sich verändert, seit er in die Schule gekommen ist, er behält jetzt seine kleinen Geheimnisse öfter für sich. Nur«, fügte sie schmunzelnd hinzu, »wenn er sich in Gesellschaft einer hübschen Frau befindet – dann plaudert er alles aus.«
»Genau«, pflichtete ihr Granny Nan ernsthaft bei. »Deshalb erzählt er mir auch immer alles.«
Ich lachte. »Und wann hat er Ihnen von dem römischen Wächter erzählt?«
»Im vergangenen Sommer.« Granny Nan legte den Kopf zurück und überlegte. »Ja, im Juni. Der Junge half mir, meine Bücherregale auszumisten und die Bücher neu zu ordnen, und auf einmal hatte er diesen alten, zerfledderten Schinken über das römische Heer in der Hand. Er war voller Abbildungen und Zeichnungen. Robbie kam ganz aufgeregt zu mir und zeigte mir einen der Legionäre und sagte: ›Er wohnt oben auf unserem Feld.‹ Einfach so. Also setzte ich mich hin und schrieb an Peter.«
»So sicher waren Sie sich?«
»Ja, natürlich.« Plötzlich kam sie mir alterslos und sehr weise vor. »Robbie irrt sich nie, Mädchen. Wenn er etwas auf diesem Feld sieht, ist es auch da. Wir sind es, die blind sind.«
Dann erinnerte sie sich an den Schraubenzieher in ihrer Hand und nickte uns entschlossen zu. »Gut, ich werde noch schnell diese lose Angel festschrauben, und dann kann’s losgehen. Ihr könnt den Haggis und das Wörterbuch hinter der Rezeption ablegen, und sicher will Verity Davys Regenmantel nicht die ganze Zeit mit sich herumschleppen …«
Jeannies dunkle Augen fingen meinen Blick auf, und ihre Botschaft lautete: Siehst du? Hab ich’s dir nicht gesagt.
Ich ignorierte sie, verstaute meine Sachen hinter dem Rezeptionspult und versuchte, mir einen Rest von Würde zu
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