Die Geister von Rosehill: Roman (German Edition)
Genausogut könnte man versuchen, die Sonne zu überreden, im Osten unterzugehen.«
Als wir die Stufen zum Eingang hinaufstiegen, die Köpfe gegen Wind und Regen gebeugt, warf Jeannie mir einen Seitenblick zu und lächelte ihr verschmitztes Lächeln. »Du solltest aber vielleicht diesen Regenmantel ausziehen, ehe wir hineingehen, weißt du.«
Ich sah an mir hinunter. »Sehe ich wirklich so schlimm darin aus?«
»Nein, aber er gehört Davy«, teilte sie mir mit und klang recht selbstzufrieden dabei, weil sie mich schon zum zweitenmal mit einem Kleidungsstück des großen Schotten erwischt hatte. »Und Granny Nan ist eine Frau, der nichts entgeht.«
XI
Der Wind schlug die Tür hinter uns zu, als wir die Eingangshalle betraten, aber niemand nahm groß Notiz davon. Zwei Pärchen standen dicht nebeneinander bei der L-förmigen Rezeption. Es waren junge, großstädtisch-schick gekleidete Leute, die nicht so ganz in die Umgebung passen wollten. Ich konnte die Frau, die sie beriet, nicht sehen, aber ich hörte sie telefonieren und nach einem freien Zimmer fragen. Was mir merkwürdig vorkam, bis mir einfiel, daß David gesagt hatte, das Museum von Eyemouth beherberge auch die örtliche Touristeninformation. Offenbar gingen die Aufgaben, Besucher durch die Ausstellung zu führen und erschöpften Touristen, die nicht daran gedacht hatten, für das Bank-Holiday-Wochenende im voraus zu reservieren, Übernachtungsmöglichkeiten zu besorgen, Hand in Hand.
Ein großer Teil der Eingangshalle wurde von Aushängen und Stellwänden dominiert, an denen Karten, Landschaftsansichten und Fotos von verschiedenen Bed and Breakfasts aufgehängt waren. Bus- und Bahnfahrpläne drängten sich neben einer verwirrenden Vielzahl von Handzetteln und Aushängen, auf denen alles mögliche angeboten wurde, von Besichtigungen herrschaftlicher Häuser und Gärten bis hin zu geführten Wanderungen entlang der zerklüfteten Küste.
Ich legte den tropfenden Regenmantel über meinem Arm zusammen und trat zur Seite, um einen mit Broschüren beladenen jungen Mann vorbeizulassen. Er klapperte die Stufen einer Eisentreppe an der hinteren Wand hinauf, und ich sah neugierig nach oben. »Gibt es dort noch ein Stockwerk?«
»Ja«, sagte Jeannie. »Dort finden die Sonderausstellungen statt. Aber die ständige Sammlung ist hier unten – hinter der Tür beim Empfang geht es hinein, siehst du?«
Ich sah eine breite Doppeltür, deren auf- und zuschwingende Flügel offenbar Eingang und Ausgang darstellten.
»Wir warten aber am besten auf Granny Nan«, meinte Jeannie lächelnd. »Sie wird dich selbst herumführen wollen.«
Mein Blick wanderte wieder zur Rezeption, aber die jungen Paare standen immer noch davor und kehrten mir ihre Rücken zu. Da mir kein Blick auf Davids Mutter vergönnt war, betrachtete ich derweil mit gespieltem Interesse die Andenken in den Regalen neben mir.
Unter den kitschigen Souvenirs fiel mir eines besonders ins Auge – eine kleine runde Kugel aus hellem Fell, auf der ein rotes Schottenmützchen saß. Zwei schwarze Knopfaugen lugten unter den Fellbüscheln hervor, als ich das seltsame Ding in die Hand nahm und es hin und herdrehte. »Was soll das denn sein?« fragte ich Jeannie.
»Och, hast du etwa noch nie einen Haggis gesehen? Schlaue kleine Wesen sind das. Man bekommt sie in freier Wildbahn fast nie zu Gesicht. Dieser hier singt sogar.« Sie drückte auf die kleine Mütze, und ein hohes, piepsiges Stimmchen gab »Scotland the Brave« zum besten.
Ich mußte lachen, die Fellkugel war einfach zu komisch. »Ein singender Haggis?«
»Ja. Die echten sehen nicht ganz so freundlich aus …«
»Ach, hör schon auf«, sagte ich. »Ich bin zwar Engländerin, aber sogar ich habe schon gehört, daß ein Haggis nichts weiter als eine Art Wurst im Schafsmagen ist.«
»Tatsächlich?« Jeannie gab ihren wachen Augen einen geheimnisvollen Ausdruck und ging ein paar Schritte weiter zu einem Bücherregal. »Hier«, sagte sie. »Hier haben wir, was du brauchst.«
Ich behielt meinen Haggis in der Hand und trat zu ihr, aber ehe sie mir zeigen konnte, was sie gefunden hatte, mußten wir wieder zur Seite treten, um die beiden schick gekleideten Pärchen vorbeizulassen. Als sie abgezogen waren, konnte ich endlich den ersten Blick auf David Fortunes Mutter werfen.
Weil ich von ihr so oft als »Granny« hatte erzählen hören, hatte ich eine Frau erwartet, die meiner eigenen Großmutter ähnelte, klein und sanft, mit runzeligen Wangen und dünnen
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