Die Geister von Rosehill: Roman (German Edition)
hier?«
»Na klar, ich glaube, es gibt vier von uns. Oder sogar fünf?« Er kniff die Augen zusammen und überlegte. »Nein, nur vier. Mein Onkel David und mein Cousin – er ist ein paar Jahre jünger –, und dann gab es noch einen David Fortune, der mit mir zur Schule gegangen ist. Wenn ich die Familiengeschichte zurückverfolgen würde, würde er sich bestimmt auch als Cousin herausstellen. Aber das ist noch gar nichts im Vergleich zu den Dougals«, fügte er hinzu. »Man kann in der Stadt nicht ausspucken, ohne einen Dougal zu treffen.«
»Und wie kommt jemand zu seinem Spitznamen?«
»Och, das ist ganz verschieden. Ich habe als Junge immer nach Sachen gegraben und den Archäologen gespielt, so daß mein Großvater mich ›Deid-Banes‹ – dead bones, tote Knochen – nannte, und das ist mir geblieben. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er mich einfach ›Bones‹ genannt, aber es gab schon einen Bones und einen Young Bones in Eyemouth.«
»Aha«, sagte ich.
»Manche Beinamen sind auch etwas obskurer. Es gab zum Beispiel mal einen Deddy, keine Ahnung, woher das kam. Und einen Pamfy, einen Racker und einen Duffs. Von Duffs allerdings weiß ich«, sagte er mit einem breiten Lächeln, »daß er auf einem Fischkutter als Koch gearbeitet hat. Aber alles, was er konnte, waren ›Plum duffs‹, eine Art Pflaumenknödel, also nannten sie ihn Duffs. Seine Tochter hat den gleichen Spitznamen bekommen, und ich glaube, sogar ihr Sohn wird noch manchmal so genannt.«
Ich rümpfte die Nase und sprang über ein weiteres zusammengelegtes Fischernetz. »Frauen bekommen also auch Beinamen?«
»Ja, sicher. Wenn du Duffs geheiratet hättest, wärst du Verity Duffs geworden.«
»O nein, wäre ich nicht«, versicherte ich ihm.
»Das klingt längst nicht so schlimm wie der Beiname meiner Mutter.«
»Wie, Granny Nan?«
Er schüttelte den Kopf. »Granny Nan ist nicht ihr Beiname, Mädchen. So nennt nur Robbie sie – Robbie und noch ein paar andere. Nein, sie haßt ihren Beinamen. Wenn du sie so nennst, läufst du Gefahr, die Zähne eingeschlagen zu bekommen.« Er sah mich an, und sein Lächeln wurde noch breiter. »Und du brauchst mich gar nicht so anzusehen, ich werde ihn dir nicht verraten. Dazu ist mir mein Leben zu lieb.«
»Sie kann ganz schön böse werden, deine Mutter, oder?«
»Das kannst du laut sagen.«
Von seiner Offenheit und unserem unbefangenen Zusammensein ermutigt, wagte ich eine weitere Frage. »Dein Vater war auch Fischer, nicht wahr?«
»Ja, zumindest haben sie mir das erzählt. Ich kann mich nicht richtig an ihn erinnern. Ich habe nur dieses Bild von einem großen Mann in einem Troyerpullover vor mir, der immer nach Fisch roch. Aber vielleicht war das auch gar nicht mein Vater. In unserem Haus rochen alle nach Fisch. Mein Großvater war ein cadger .«
»Ah«, nickte ich wissend. »Eine Art reisender Fischhändler, meinst du.«
Wir waren am Ende des Mittelpiers angelangt. Eine scharfe Wendung nach rechts hätte uns über eine schmale Zugbrücke über den Fluß Eye und um die Rettungsbootstation herum zu den hoch aufragenden Mauern von Gunsgreen-Haus geführt. Aber David zog es vor, sich an das feuerrote Geländer am Ende des Piers zu lehnen und mich augenzwinkernd anzusehen.
»Du hast wohl mit dem Wörterbuch unter dem Kopfkissen geschlafen, wie?« fragte er in amüsiertem Ton. »Oder woher weißt du, was ein cadger ist?«
»Na ja, neulich mußte ich ca’ canny nachschlagen, und cadger war auf derselben Seite, also habe ich mir das auch gleich gemerkt.«
» Ca’ canny ?«
»Ja. Das heißt aufpassen, vorsichtig sein.«
»Schon klar, ich weiß, was das heißt. Aber warum hast du es nachgeschlagen?«
Ich zuckte die Achseln und lehnte mich ebenfalls an das Geländer. »Wally hat es letzte Woche zu Jeannie gesagt, als sie mit dem Auto losfuhr. Ich weiß nicht, wohin sie fuhr, aber Wally sagte ›ca’canny auf dieser Straße‹ zu ihr. Und ich wollte wissen, was das heißt.«
»Du hättest doch auch fragen können.«
»Ich möchte nicht jedesmal nachfragen. Außerdem«, betonte ich, »klappt es ja ganz gut mit dem Wörterbuch. Schließlich wußte ich, was ein cadger ist.«
»Ja, das stimmt.« Er nickte lächelnd und wandte sein Gesicht dann der geschützten Hafeneinfahrt zu. Hin und wieder erfaßte ein starker Windstoß eine hohe Welle und wehte einen Vorhang aus weißer Gischt über die Schutzmauer. Ich konnte den schwachen Salzgeschmack von unserer Position aus wahrnehmen und die
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