Die Geister von Rosehill: Roman (German Edition)
reine Frische der kühlen Nordseeluft riechen. Der Geruch nach Fisch war nur ganz schwach, aber bei David schien er Erinnerungen zu wecken. »Er hatte ein kleines Geschäft, mein Großvater, und verkaufte Fisch im Norden, um Edinburgh herum. Dort lebten damals hauptsächlich Bergleute mit großen Familien. Einpfünder waren nichts für sie – sie brauchten mindestens zehn Stück, um all die hungrigen Mäuler zu stopfen. Und das bedeutete Weißfische. Schon mal einen Weißfisch ausgenommen?«
»Nein.«
»Schreckliche Viecher.« Er grinste. »Mein Großvater ging täglich zur Auktion, um seine Kisten mit Weißfischen zu holen, und jeden Tag, wenn ich aus der Schule nach Hause kam, mußte ich helfen, sie auszunehmen und zu filetieren. Nur am Wochenende gab es eine kleine Pause. Dann wurde nicht gefischt, weißt du, und deshalb mußten wir uns erst wieder am Montagnachmittag mit den Weißfischen herumplagen. Aber dann war der Schuppen wieder voll mit Kisten.«
»Auch im Winter?«
»O ja. Nur daß es im Winter so kalt war, daß wir auf einem alten Filetierbrett standen, um die Kälte vom Boden nicht so zu spüren. Wir mußten Lumpen, die mit kochend heißem Wasser getränkt waren, auf unsere Gummistiefel legen, damit uns die Zehen nicht abfroren. Die Finger tauchten wir regelmäßig in Schüsseln mit heißem Wasser, um weiterarbeiten zu können. Gott«, er schauderte bei der Erinnerung, »ich haßte diese Arbeit. Sie war so öde, daß nach der ersten Stunde schon niemand mehr ein Wort sagte. Nur die Fische wurden gezählt. Es waren immer zweihundertsiebenunddreißig Weißfische in einer Kiste«, erklärte er. »Sie haben die Stückzahl jetzt in Gewichteinheiten geändert, aber so viele waren es früher.«
Ich stützte einen Fuß auf das rotgestrichene Geländer und folgte seinem Blick hinaus aufs Meer. »Ist es das, was dich abgeschreckt hat, auch Fischer zu werden?«
»Nein, eigentlich nicht. Man ist für das Meer geboren oder nicht, und ich bin es nicht. Meine Mutter wußte das schon sehr früh. Sie erzählt gern die Geschichte, wie Peter mich im Garten beim Graben erwischte und sofort verkündete, daß ich zum Archäologen geboren sei.«
»Und er behielt recht.«
»Er behält meistens recht.«
Das klang wie eine schlichte Feststellung, und ich schwieg einen Moment und dachte an die Ausgrabung auf Rosehill. An das Verschwinden der Neunten Legion vor vielen, vielen Jahren und an die geisterhafte Erscheinung von letzter Nacht, die möglicherweise nona gesagt hatte …
Unter uns glitt geräuschlos etwas Weißes vorbei, und ich sah erschrocken hinunter. Kein Geist, stellte ich beruhigt fest, aber etwas, das fast genauso ungewöhnlich war. »David, sieh mal!«
»Ach ja, der Schwan. Ich habe mich schon gefragt, wo er steckt.«
»Willst du damit sagen, daß er hier lebt? Hier, im Hafen?«
Der Vogel legte den Kopf schräg beim Klang meiner Stimme, und nachdem er mich mit einem runden Auge unsicher betrachtet hatte, wendete er elegant und glitt unter die kleine rote Zugbrücke und in die relative Sicherheit des Kanals zurück.
»Er ist wunderschön«, sagte ich.
»Ja.« David sah zu, wie die majestätische Gestalt unter der Brücke verschwand.
»Hat er eine Gefährtin?«
»Noch nicht. Vor ein paar Jahren war einmal ein Weibchen hier, aber sie blieb nur etwa zwei Wochen. Sie schien sich nicht an das Leben im Hafen gewöhnen zu können.« Er wandte mir sein Gesicht zu und sah mich ohne Verlegenheit an. »Und er hat sich hier niedergelassen, der Junge. Er ist zu alt, um sich an eine neue Umgebung zu gewöhnen.«
Er hatte lediglich den Kopf ein bißchen bewegt, doch der räumliche Abstand zwischen uns schien plötzlich minimal zu sein. Plötzlich wurde mir bewußt, wie nahe er war, wie leicht es wäre, ihn zu berühren, seine Wärme zu spüren … mit meiner Hand über die kantigen, unrasierten Züge seines Gesichts zu streichen …
In seinem Blick schimmerte ein Lächeln, als er auf meine Lippen und dann wieder in meine Augen sah. » Ca’canny auf dieser Straße«, sagte er sanft.
Aber es war keine Warnung. Nein, erkannte ich mit wachsendem Erstaunen, als ich sah, wie sich das Lächeln von seinen Augen auf seinem Mund ausbreitete, er wollte mich nicht warnen. Er wollte mich herausfordern.
Und ich war schon dabei, auf die Herausforderung einzugehen und ihm mit wild rasendem Puls entgegenzukommen, als plötzlich ein Schatten zwischen uns fiel.
»Hallo«, sagte Adrian. »Dachte ich’s mir doch, daß ich
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