Die Geisterseherin (German Edition)
gesenkt und schielte jetzt vorsichtig in Richtung ihres Vaters, doch sie konnte keine Regung in seinem Gesicht entdecken. Was hielt er von dem, was sie ihm erzählte? Glaubte er ihr? Es war ja die Wahrheit... nur eben nicht die komplette... Sie konnte ihren Vater einfach nicht einschätzen... Wusste er vielleicht sogar schon mehr, als sie vermutete?
„Diese Woche... vorgestern Abend... hat jemand vor meiner Nase ein Mädchen erstochen und heute starb ein Klassenkamerad von mir... er beging Selbstmord... und ich habe ihm doch gestern noch geholfen...“ Ihre Augen begannen schon wieder zu tränen, dieses Mal nicht wegen der Schärfe des Essens. Einige Tränen rollten bereits ihre Wange herunter und sie realisierte erst einmal, wie viel Tod und Leid sie eigentlich in den letzten zwei Wochen, seit sie hier nach Ichihara gekommen war, gesehen hatte. In all den Jahren in den anderen Städten, hatte sie nicht einmal einen Bruchteil von dem, was sie hier erleben musste, erlebt.
„Du bist dir wirklich sicher, dass du hier bleiben willst... in einer Stadt, in der es so viele Tote gibt?“, fragte ihr Vater schließlich verwundert.
„Nein, ich will nicht weg, Papa! Ich will nicht schon wieder „die Neue“ sein! Hier habe ich endlich einen Freund gefunden, mit dem ich über alles reden kann und außerdem...“
Sie verstummte.
„Ich hasse diese Stadt und gleichzeitig liebe ich sie... Ich will sie beschützen, zu einem sicheren Ort machen. Aber am Ende...“ Mikoto biss sich auf die Lippe und schwieg. Wenn sie jetzt noch irgendetwas sagte, dann würde sie sich noch verplappern und die Geister erwähnen – und das war das letzte, was sie tun wollte. „So viele Tode...“
Ihr Vater seufzte.
„Ich weiß ja, dass du sie magst und auch ich will nicht immer umziehen, verstehst du. Vielleicht sollten wir es dieses Mal nicht so ernst sehen und wenigstens noch eine Weile lang hier in Ichihara bleiben...
Er musterte Mikoto ernst.
„Ich will aber, dass du mir ab sofort erzählst, was hier passiert. Ich bin dein Vater und habe ein Recht darauf, so etwas zu erfahren. Außerdem habe ich mir wirklich Gedanken gemacht, weißt du, wie es sich anfühlt, wenn die Tochter von einem Polizisten nach Hause gebracht wird, aber nicht mit einem spricht?“
„Tut mir leid...“, entschuldigte sie sich leise.
„Außerdem musste ich erfahren, dass du schon seit Ewigkeiten nicht mehr bei deiner Psychiaterin warst.“
„Das ist... das ist...“, rang Mikoto nach Worten. Ihr Vater hatte Recht, sie war schon ewig nicht mehr bei Q'nqüra... obwohl sie ja eigentlich hin sollte...
„Ich kann sie nicht leiden...“, flüsterte sie schließlich.
„Mikoto, ich versuche dir zu helfen und sie versucht es ebenfalls. Aber dazu musst auch du mitspielen. Ich weiß, dass du diese Psychiater-Geschichte nicht magst, aber dein Verhalten bewirkt letztendlich nur eine Verlängerung der Behandlung.“
Yujiro vermied wie seine Tochter absichtlich das Wort „Geist“, nur aus einem anderen Grund: Er wollte ihre „Wahnvorstellung“ nicht auch noch fördern.
„Hör mal, ich mache dir einen Vorschlag. Du wirst fortan regelmäßig zu der Psychiaterin gehen, heute Abend angefangen, und du wirst mir fortan erzählen, wenn etwas Schlimmes passiert ist. Als Gegenleistung verspreche ich, dass wir nicht noch einmal umziehen werden. Außerdem habe ich dann nichts gegen einen Wochenendausflug ans Meer. Du kannst auch, wie ich bereits sagte, gerne Freunde mitbringen.“
„Muss diese Seelenklempnerin wirklich sein...? Gibt es hier in Ichihara nicht auch noch andere...? Ich nehme jeden... nur nicht sie.“, startete Mikoto einen letzten Versuch, innerlich hatte sie allerdings schon aufgegeben. Die Herrin der Zeit hatte diesen Kampf eindeutig gewonnen.
„Vielleicht, aber wir bleiben bei Q'nqüra. Ihr Name mag zwar klingen, als käme sie aus dem tiefsten Dschungel, aber sie soll die beste Psychiaterin hier in Ichihara sein. Außerdem würde dir der nächste Psychiater auch nicht gefallen, und der übernächste ebenfalls nicht. Wir bleiben bei ihr, in den sauren Apfel wirst du wohl beißen müssen.“
Mikoto seufzte. Sie wusste nicht, ob es besser war einen echten Psychiater oder... diese Frau... zu haben. Aber das war jetzt auch egal. Wenn sie wirklich mal eine Ruhepause am Meer haben wollte, dann musste sie auf diese Forderungen eingehen. Und wenn sie im Kopf die einzelnen Möglichkeiten gegeneinander aufwog, „weitere Umzüge mehr“ gegen „angebliche Psychiaterin“, dann
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