Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
die letzten Tränen aus, sehen Sie, lieber Herr Dittrich, für so eine Beichte, für so eine lange Jammerrede, da braucht es beinahe das Nachthemd – sie fasst sich an den Nachthemdkragen, da hätte ich im Kleid komisch ausgesehen? Nicht wahr, so ist es doch?
Plötzlich springt die kleine Frau auf, macht ein entschlossenes Gesicht.
Haben Sie nicht eine Flasche Wein? Zu solcher Stimmung passt ein saurer Elbhangwein aus der Lößnitz. Sie schweigt erwartungsvoll. Dann verzieht sie ihr Gesicht wie unter einem Schlag, denn auf einmal wird ihr klar, wie sie sich hier vor dem fremden Mann aufführt. Verzeihen Sie mir, lieber Herr Dittrich, aber wie Sie sehen, ist mir das Herz übergelaufen. Bitte verzeihen Sie mir … und sie sucht mit den Augen das Taschentuch, das sie auf dem Bett liegen gelassen hat, sie wird es gleich brauchen, weil sie spürt, wie ihr die Tränen wieder in die Augen steigen. Dann, auf einmal, ganz plötzlich, Stimmungswechsel, sie kichert: Nein, also wirklich. Was bin ich doch für eine hysterische Person? Da hat der Doktor Klencke ja vollkommen recht mit seiner Diagnose. Hysterisch und recht albern. Vielleicht haben Sie mich deshalb auch auf fünfundzwanzig geschätzt? Bin ich nicht unreif, richtiggehend unreif …? Was sagen Sie? Bitte, lieber Herr Dittrich, sagen Sie was …
Max Dittrich räuspert sich, er wirkt verlegen, sagt, das seien ja Geschichten, ach, das seien Geschichten … sie, die kleine Lilly, tue ihm leid und er habe gar nicht gewusst, dass ihr Bruder so ein … so ein Berserker sei, er habe ihn ein oder zwei Mal bei Karl May getroffen, und da habe er auf ihn einen liebenswerten Eindruck gemacht, da habe er wie der menschenscheue Künstler gewirkt, bescheiden und weltfremd, und auch der Karl spreche von ihm nur in den höchsten Lobestönen … er habe in Ihrem Bruder, sagte er mir, einen wahren Freund gefunden, sie seien wie füreinander bestimmt, seien wie Geistesbrüder …
Ja, ja, sagt die kleine Lilly, vor Fremden, da tue ihr Sascha, als ob er kein Wässerchen trüben könne, da spiele er den Liebenswerten, und ganz besonders bei den Mays, diesen lieben und herzensguten Menschen, da fühle er sich wie im Schoße einer Musterfamilie, na, und schließlich wisse er ja auch warum. Sie lacht kurz auf: Von Karl May bekomme er schließlich Aufträge und Geschenke wie von keinem anderem, da müsse er ja der Liebe sein, der Künstlerbruder, der Allesversteher, aber kaum zu Hause, da schütte er seinen ganzen Menschenhass über dem Haupt der Schwester aus, sie habe das Aufgestaute und Verdrängte auszuhalten, sein ganzes Misanthropentum, oder wie man das nenne …
Trotzdem, entgegnet Dittrich und erhebt sich, trotzdem, er glaube nicht, dass ihr Bruder Sascha so ein Ekel sei, sicherlich liebe er seine kleine Schwester genauso wie sie ihn liebe …
Dass ich nicht lache, Lilly macht ein säuerliches Gesicht, das weiß ich aber besser.
Sie folgt Max Dittrich mit den Augen, der durch das Zimmer gegangen ist und hinter einem Vorhang wie aus einem Geheimarchiv eine Flasche Wein hervorgeholt hat. Er hebt sie hoch, liest: Weißburgunder aus dem Jahre 1897, Diesbar-Seußlitz, Weinkellerei Lehmann. Na, da haben wir doch den sauren Elbhangwein, wie Sie sagen, noch dazu einen Weißburgunder. Der wird uns schmecken … und sauer ist der kein bisschen.
Dittrich kommt heran, er hält einen Korkenzieher in der Hand. Aber leider, sagt er, er habe nur ein einziges Glas. Das gebe er selbstverständlich seiner kleinen Besucherin, er selber trinke dann eben aus dem Zahnputzglas. Stört sie das? Ach, i wo. Das macht doch nichts! lacht die kleine Lilly, die sich auf den Wein freut, das macht doch der Pastorin kein Kind, wie Sascha immer sagt. Schenken Sie ein, lieber Herr Dittrich! Schenken Sie ein. Prosit!
Dittrich gießt das Weinglas und sein Zahnputzglas voll. Man prostet sich zu, man trinkt, Dittrich, der Wein, den er bei Karl May getrunken und der jetzige, sie mischen sich, der alte lebt auf, der neue kribbelt ihn zu neuem Leben, Dittrich rötet sich und wird gesprächig.
Er erzählt von seinem Text „Karl May und seine Schriften“, zitiert Auszüge aus dem Kopf, greift unter das Bett und holt einen Packen Blätter hervor, wühlt darin, liest. Die kleine Lilly hört zu, ganz eifrig, rotbäckig, denn auch ihr ist der Wein zu Kopfe gestiegen. Sie fragt den Erfahrenen, den Schriftsteller Dittrich, ob er ihr beim Schreiben helfen wolle, sie hätte auch ein paar Texte geschrieben, besonders Gedichte,
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