Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
Dittrich, habe sie unbedingt sprechen wollen. Das habe sie sich vorgenommen. Es drückten sie allzu viele Sorgen. Und zu ihm, dem Herrn Dittrich, habe sie, gleich, als sie sich das erste Mal gesehen haben, Vertrauen gefasst. Auch, weil er Karl und Klara Mays Freund sei. Vom Herrn Obermedizinalrat hätte sie indes erfahren, dass er, der Herr Dittrich, heute Ausgang nach Radebeul genommen habe, und dass er sicherlich noch vor Mitternacht zurückkäme. Dann habe sie, es könne Viertel nach elf gewesen sein, von unten jemanden kommen gehört, da habe sie sich schnell in der Nische neben dem Fenster versteckt. Als sich auf dem Gang dann die Tür geschlossen hätte, habe sie nachsehen wollen, ob dieser Jemand tatsächlich Herr Dittrich gewesen wäre, und sie sei vor seine Tür geschlichen und habe gelauscht, dabei müsse sie der Tür zu nahe gekommen sein und wahrscheinlich habe sie ein kratzendes Geräusch verursacht. Auf einmal habe er, der Herr Dittrich, die Türe aufgerissen. Mit Müh und Not habe sie sich hinter die Säule beim Treppenaufgang retten können, doch offenbar sei es zu spät gewesen, denn er habe sie erkannt und bei ihrem Namen gerufen, sie möge doch in sein Zimmer kommen. Da sei sie hinter der Säule hervorgetreten und zu seinem Zimmer gelaufen, wie ein Befehl hätte es geklungen und sie habe nichts dagegen machen können, fast hätte sie sich so ertappt gefühlt wie in Kindertagen, wenn der Vater nach ihr rief, nicht an das Nachthemd habe sie mehr gedacht oder sich irgendetwas überzuziehen, die Strümpfe, den Morgenmantel – nun stehe sie hier und bitte ihn für ihren Aufzug um Vergebung, doch wenn er wolle, hole sie schnell den Mantel, ziehe ein Paar Socken über, andere Schuhe …
Max Dittrich aber, der sich auf sein Bett gesetzt hat, schüttelt den Kopf. Er sei ein alter Mann, im Juni werde er sechzig, ein junges Mädchen könne ihn nicht mehr aus der Ruhe bringen, wegen ihm brauche sie sich keinen Zwang anzutun, wenn sie nicht friere, könne sie bleiben, wie sie sei.
Lilly lächelt wie ein Kind, dem man erlaubt hat, noch aufzubleiben. Ihre dunklen Augen strahlen dankbar. Die starken Haare hat sie zu einem Zopf geflochten, er hängt ihr nach vorn zwischen den kleinen festen Brüsten, die unter dem Nachthemd hervorstechen. Gut, Herr Dittrich, dann hol ich den Mantel später, sagt sie, vielleicht wird mir ja auch gar nicht kalt. Darf ich?
Dittrich nickt. Sie setzt sich zu ihm auf den Bettrand.
Sie sei doch höchstens Fünfundzwanzig, beginnt Dittrich das Gespräch, was könne eine Fünfundzwanzigjährige schon für Krankheiten haben, das sei ihm ein Rätsel.
Zweiunddreißig! sagt sie und fixiert den Mann mit ihren dunklen Augen, sie werde im Herbst schon zweiunddreißig Jahre alt. Sie sei kein junges Mädchen mehr, und sie sei sogar schon verlobt … und ihre Krankheiten … sie bricht ab, senkt den Kopf, wird rot.
So, so schon verlobt sei sie also, entgegnet Dittrich und lächelt in sich hinein.
Ja, ihr Verlobter und sie würden sich schon lange kennen, ihr Verlobter sei russischer Botschaftssekretär, er heiße Peter Gorutschko, und er habe eine glänzende Karriere vor sich, sogar die russisch-orthodoxe Kirche interessiere sich für ihn, er könne Diakon werden, habe man ihm vorausgesagt; doch ihr Bruder Sascha stelle sich dagegen, gegen ihren Peter, gegen eine Heirat, er verweigere ihr eine Mitgift, die sie doch aber von ihrer armen Mutter nicht verlangen könne. Er habe die Mittel nicht, sage Sascha immer wieder, und er müsse an sich denken, und wenn er demnächst wegen seiner Professur nach Weimar umziehe, da brauche er jeden Pfennig. Da könne er seiner kleinen Schwester nicht noch Geld in den Rachen werfen. Wenn ihr Herr Botschaftssekretär ernsthafte Absichten hätte, wenn er sie tatsächlich liebe, so wie er in seinen Briefen schreibe – Lilly unterbricht sich, schluchzt: Sehen Sie, Herr Dittrich, Sascha macht meine Briefe auf, liest sie und macht dann schlechte Witze darüber – wenn er sie wirklich liebe, der Herr Botschaftssekretär, sage ihr Bruder, dann werde er sie auch ohne Mitgift nehmen, lange genug gehe der ganze Schlamassel ja schon. Schlamassel! Man stelle sich vor: Schlamassel habe er zu ihrer Beziehung gesagt. Ein furchtbarer Mensch sei ihr Sascha. Und immer furchtbarer sei er geworden in den letzten Jahren. Kaum zum Aushalten …
Wieder schluchzt die kleine Lilly neben Dittrich auf dem Bett. Tränennass blickt sie ihn an.
Bitte, ob sie nicht ein Taschentuch haben
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