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Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)

Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)

Titel: Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Funke
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könne?
    Dittrich geht zur Kommode und holt ein Taschentuch, reicht es wortlos der Weinenden. Zögernd hebt er seine Hand, will ihr über den Scheitel streichen, doch er lässt es, legt die Hand ganz sacht nieder neben dem Mädchen auf das weiße Laken, tastet vorsichtig in ihre Richtung, kann schon die Wärme des Mädchenkörpers spüren, verharrt wieder, nein, sagt er sich, nein, wendet ihr den Kopf zu. Sie spricht weiter: Einmal im letzten Jahr habe Sascha ihren Peter schon aus der Wohnung geworfen, als er sie in Meißen besucht habe, das wäre im September gewesen, es habe sogar eine richtige Rauferei gegeben, und Sascha sei ja trotz seines Rückenleidens ein bärenstarker Mann. Peter sei aus dem Haus gestürzt und habe im Zorn gerufen, in so ein Haus setze er seinen Fuß nicht wieder. Wochen habe sie gebraucht, um ihn zu beruhigen. Wochen habe sie gebettelt, tausendmal sich für Sascha entschuldigt! Ach, warum ihr Bruder nur so ein Trotzkopf und so jähzornig sei? Sie liebe ihn doch, sie bewundere ihn wegen seines Talents, sie verehre ihn über alle Maßen. Aber er gebe ihr diese Liebe nicht zurück. Schon als sie Kinder waren, sei das so gewesen. Auch damals in Petersburg habe sie oft für ihn die Prügel eingesteckt, sie habe ihn immer in Schutz genommen, sie habe ihn behütet nach seinem schlimmen Unfall, habe alle schwere Hausarbeit gemacht, weil er doch wegen seines Rückenleidens nicht mehr imstande gewesen wäre. Sie habe richtiges Mitleid mit dem Bruder gehabt, und dann, als sein Zeichentalent zum Vorschein gekommen sei, da habe sie ihn bewundert und ihm geholfen, sie habe oft neben ihm vor seinen Bildern gestanden, wenn er mutlos war und sie vernichten wollte, weil ihm irgendein Detail nicht gelungen schien, sie habe ihm zugeredet, ihn gestreichelt und geküsst, habe ihm alles abgenommen, damit er sich auf seine Kunst konzentrieren könne, so, wie sie das noch immer tue, auch jetzt noch, denn sie sei ja eigentlich schon immer für ihn so eine Art Haushälterin gewesen. Auch in seinen Liebesdingen habe sie zu ihm gehalten. Er habe ihr als Erster die Wahrheit über sein Anderssein, über seine Liebe zu Jungen, erzählt, und sie habe den Eltern gegenüber geschwiegen. Kein Wörtchen habe sie der Mutter erzählt, über viele Jahre sei das so gewesen, bis die Mutter eines Tages von selber dahintergekommen sei, und da habe sie dann oft beide trösten müssen, den Bruder wegen seiner unglücklichen Veranlagung, und die Mutter, weil sie sich so sehr wegen Sascha geschämt habe.
    Oh sie, Lilly, sei immer schon der Prellbock gewesen, der Puffer oder auch die Klageecke. Aber sie habe es ertragen, tapfer ertragen, und sie habe oft ihr Eigenes zurückgestellt, ja ihr eigenes Glück sei dabei zu kurz gekommen, und nun, wo sie auch einmal, ein einziges Mal etwas für sich wolle, da stelle sich der Sascha quer und vergelte ihr jahrelange Güte mit einem Fußtritt. Vielleicht sei dieser Kummer auch die heimliche Ursache für ihre Schmerzen, an denen sie leide und die sie am Ende hierher in das Kurbergsanatorium geführt hätten. Und … und … wieder nahm die kleine Frau das Dittrich’sche Taschentuch, schluchzte hinein, schnäuzte sich, schaute auf, und die Tränen rannen ihr über die drallen geröteten Wangen, und … und jetzt will er uns, die Mutter und mich, sogar nicht einmal mit nach Weimar nehmen. Das komme gar nicht in Frage, habe er gesagt, dass er seine künstlerische Karriere, seinen Start in ein neues Berufsleben, mit weiblichen Wesen belaste. Noch dazu mit Weibern aus der Familie. Ihr Gejammer sei ihm so schon auf die Nerven gegangen, jetzt habe er genug davon, er wolle allein sein, mit sich und seiner Kunst, ganz allein oder vielleicht mit einem Menschen, den er liebe … Das Taschentuch! Das Taschentuch! Aufs Neue schüttelt die junge Frau ein Weinkrampf. Und das mir, lieber Herr Dittrich! Stellen Sie sich vor – einen Menschen, den er liebt, will er um sich haben! Den er liebt!! Das sagte er. Oh Gott. Nicht mich oder die Mama, nein, er liebt irgendeinen dahergelaufenen Kerl, womöglich sogar einen seiner Studenten, und wir, Mutter und ich, wir werden hinausgeworfen. Abgeschnitten von ihm wie ein alter Hemdkragen. Und was soll aus meiner Heirat werden? In so eine zerrüttete Familie wird doch mein Peter nicht einheiraten wollen, noch dazu, wenn ich ohne Mitgift bleibe … lieber Herr Dittrich, lieber, lieber Herr Dittrich, ich weiß nicht mehr weiter … sie macht eine Pause, lächelt, wischt sich

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