Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
säße, dass es so dringlich wäre, dass sie … nun ja, ich dachte vielmehr, dass wir beide noch einmal über mein Vorwort zu Ihrem Text reden sollten. Die halbe Nacht und auch gestern und vorgestern habe ich daran gesessen. Es ist nämlich kein Vorwort im eigentlichen Sinne geworden, es ist, nun wie soll ich sagen … es ist … ist ein Gedicht geworden. Jawohl, ein Gedicht!
Was? Ein Gedicht? Sie, lieber Doktor, ein Dichter??
Der Kurarzt errötet, er senkt die Augen hinter seinem Kneifer, wieder zittert der Bart, wieder scheint er zu lächeln. Ja, verzeihen Sie mir – ein Gedicht. Soll ich es einmal vortragen?
Und da Dittrich nickt, wirft sich der Doktor in Positur, er erhebt sich, räuspert sich, zieht ein Blatt Papier aus dem Jackett, beginnt:
Wir gleichen bleiernen Soldaten,
Genau gerichtet nach der Schnur,
Wagt einer es mit Worten, Taten
Sich aus dem Glied: „O seht den Narren nur!“
Und Hass und Hohn wird ihm geboten,
Bis einst vielleicht wird aufgestellt
Ein Standbild „dem verehrten Toten“:
Zum Vorbild der gesamten Welt!
Um ehrlich zu sein, verehrter Dittrich. Der Doktor wirkt verlegen. Dieses Gedicht stamme eigentlich von dem Franzosen Pierre-Jean de Béranger, sagt er, in der deutschen Fassung von Adelbert von Chamisso. Er, Julius Hermann Klencke-Mannhart, habe es nur ein wenig bearbeitet und modernisiert, aber er finde es gerade als Motto für das Werk eines Militärschriftstellers wie ihn, seinen Patienten Max Dittrich, ganz passend. Und auch die besondere Rolle Mays werde berücksichtigt, wie der, der ja derzeit stark angefeindet, gesehen werden müsse, ganz passend, jawohl …
Max Dittrich lacht und gibt dem Doktor die Hand. Da hätten wir ja alles beisammen, Verehrtester, den Text, den Druck, das Vorwort, nur der Karl müsse noch zustimmen …
Dieser, Karl May nämlich, steht an jenem Abend noch geraume Zeit, nachdem sich seine Gäste verabschiedet, in seinem Empfangssalon, sinniert, denkt nach, läuft hin und her, die Hände auf dem Rücken, bleibt vor dem Schneider-Bild stehen, sieht es an, das Bild, und sieht es doch nicht, starrt blicklos vor sich hin. Klara, die nach ihm sehen wollte, hat er hinausgeschickt, er wolle allein bleiben, hat er gesagt, allein mit sich und seinen Gedanken, vielleicht begebe er sich dann noch nach oben, um zu schreiben. Ein paar Wurstbrote könne sie, wenn sie wolle, schon bereitstellen und eine Kanne Kaffee. Er hat das Licht gelöscht und von dem Bild Sascha Schneiders geht plötzlich eine geheime, urtümliche Strahlung aus, die weiße Gestalt mit ihren ausgebreiteten Armen leuchtet phosphoreszierend, vom Mondlicht, das durch die Fenster hereinfällt, hell angestrahlt, sie erscheint wie ein Geist, ein Racheengel, ein Mahner, er fühlt sich seltsam beschützt in Gegenwart dieser Gestalt. Doch May, der vor dem Bild steht, hat auf einmal eine seiner Visionen, einem Wachtraum ähnlich; doch es ist nichts Angenehmes, was er sieht, es ist ein Schreckenstraum, er sieht sich von einem mordgierigen Monster bedrängt, das ihn anzunagen beginnt, das ihn aussaugen will, ein Monster mit einem Menschenkopf. Das Monster spricht. Es sagt, es brauche Geld von ihm, mindestens drei- oder besser sechstausend Mark für den Anfang, und es werde weitere Forderungen haben, sonst vertilge es ihn mit Stumpf und Stiel. Es wisse alles von ihm, spricht das Monster, alles von seiner Vergangenheit, von seinen Vorstrafen, von Osterstein und Waldheim und Zwickau, und es werde der Welt ausposaunen, wer der wahre Karl May sei, und dann werde es ihn vollends aussaugen, bis er leer wie ein Schlauch. May sieht: Der Kopf des Monsters ist der pomadisierte Kopf mit der Nickelbrille und dem schiefen Mund des Rudolf Lebius, nur die Augen sind die glühenden Kohlenaugen, wie sie das Monster auf dem Bilde „Das Gefühl der Abhängigkeit“ von Sascha Schneider hat. Die letzten Jahre seines Lebens werde er damit zubringen, sich ihm, dem Monster, zu erwehren, krächzt das Monster, seine ganze Lebenskraft werde es aussaugen in diesen letzten Jahren; acht Jahre werden ihm noch bleiben, acht Jahre werde er noch leben, dann sei seine Kraft verbraucht, dann werde ihm ein harmloser Schnupfen den Rest geben oder eine kleine Erkältung; alles werde es, das Monster, ihm rauben, seine Lebenskraft und sein Geld, seine Freuden und seine Freunde, und er werde kaum noch schreiben können so wie auch seine Bücher kaum noch gekauft würden, besonders jene mit den Deckelbildern seines Geistesbruders Schneider
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