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Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)

Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)

Titel: Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Funke
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vor allem Gedichte, wenn sie allein in der Wohnung gesessen, weil der Bruder in der Akademie oder bei seinen Malerfreunden oder bei seinen männlichen Geliebten gewesen, dann seien ihr so schwingende Gedanken gekommen und die hätte sie dann zu Papier gebracht, aber ob dies etwas tauge, dies wisse sie nicht, aber eines wisse sie, sie müsse lernen, wie man richtig schreibt, nach den literarischen Regeln, eben wie ein Dichter, ein Schriftsteller. Also, sagt sie mit einem listigen Lächeln, ob er, der Herr Dittrich, ihr Lehrer werden wolle. Natürlich könne sie ihn nicht bezahlen, aber sie wolle gelehrig sein und fleißig … Dittrich, vom Wein zum Helden gemacht, fühlt sich geschmeichelt, sieht sich als Mentor, als alter, gewiefter Schriftsteller, als guter Geist für junge Frauen. Natürlich werde er ihr helfen, tönt er, selbstverständlich werde er sie unterrichten, gerne tue er das, und wenn er bei dieser Gelegenheit zugleich ihre Seele kurieren könne, dass sie ihre Depressionen, die hysterischen Anfälle verlöre, dass sie wieder Zutrauen zum Leben finde, dann sei ihr doppelt gedient. Hurra!
    Darauf wolle man trinken.
    Und wieder werden das Weinglas und das Zahnputzglas gefüllt. In hellem Goldgelb glitzert der Weißburgunder. Er ist ein wenig zu warm, aber er schmeckt. Es bleibt nicht bei dieser Füllung, es wird nachgegossen, bis die Flasche leer getrunken. Dittrich, auf einmal voller Übermut, dreht die Flasche um, beschaut den Flaschenboden. Kein Tropfen mehr! Schade, sagt er, ein wenig traurig. Doch dann blitzt ihm ein Gedanke durch den Kopf: Er wisse, flüstert er, wo er Nachschub besorgen könne. Im Ordinationszimmer gäbe es eine geheime Reserve. Von der nur er wisse. Die Wachschwester habe sich bestimmt zur Ruhe begeben, es sei jetzt gleich zwölfe, da nicke sie gewöhnlich ein, wie er wisse, sie lege sich auf die Behandlungspritsche und habe einen schweren Schlaf, sie liege hinter ihrem weißen Vorhang und schnarche, ruhig und gerecht, da werde er leichtes Spiel haben und spielend an den Weinvorrat herankommen … Ob er es wagen solle?
    Lilly ist begeistert. Ein Abenteuer. Endlich mal ein wenig Abwechslung.
    Gut, machen Sie es, ich warte hier so lange. Ich halte die Stellung.
    Dittrich erhebt sich und schleicht davon. Alles geht glatt. Nach ein paar Minuten ist er wieder da, eine neue Flasche in der Hand. Diesmal ist es ein Scheurebe, Jahrgang 1900. Hausabfüllung steht darauf. Der Klencke! ruft Dittrich, so ein Gauner …
    Aber als ob dieser Ausruf, einem Zauber gleich, gewirkt hätte, steht plötzlich der Obermedizinalrat wie der zürnende Zeus im Zimmer. Mit wirrem Grauhaar, zitternd der mächtige Rauschebart. Das Auge es blitzt, es funkelt der Kneifer.
    Oh, was haben wir denn da? Eine Orgie?
    Max Dittrich, sein Zahnputzglas in der Hand, erbleicht, die kleine Lilly im Nachthemd wird rot wie ein Pfirsich. Wir hatten … stottert Dittrich. Ja? fragt drohend der Doktor.
    Wir hatten gerade die Frage erörtert, wie ich der jungen Frau auf literarischen Gebieten helfen könne. Sie bat mich darum.
    Und zu diesem Zweck, Fräulein Schneider, gehen Sie im Nachtgewand umher und halten sich bei fremden Herren auf? Halten sich bei fremden Herren auf, jawohl. Was macht denn Ihr Nervenschmerz im Rücken?
    Der? Der ist im Augenblick verschwunden, Herr Professor.
    Ich bin kein Professor, bin kein Professor, mein Fräulein. Verschwunden ist Ihr Schmerz, ach so? Verschwunden also?
    Ja, und es ist wirklich, wie Herr Dittrich sagt. Ich habe ihn aufgesucht, damit er mir hilft, in literarischen Dingen … weil ich … sie senkt den Kopf und ihre Röte vertieft sich, weil ich auch ein bisschen schreibe, und er hat mir auch von seinem Text erzählt, den er geschrieben hat, „Karl May und seine Schriften“ … und da ich, wie Sie wissen, mit den Mays gut bekannt bin, und auch mein Bruder …
    Ja, ja, verehrtes Fräulein. Wir wissen das alles, wissen das alles. Und nun würden Sie mir eine Freude machen, eine Freude machen, wenn Sie schnell auf Ihr Zimmer gingen. Ich will Gnade vor Recht ergehen lassen und einmal übersehen, übersehen jawohl, dass Sie die Hausordnung gröblichst übertreten haben. Sie wissen, eigentlich müsste ich Sie nach Hause schicken, nach Hause schicken jawohl, und Ihrem Herrn Bruder bitten, die entstandenen Kosten zu übernehmen …
    Lilly springt auf und kniet wie sie ist, im Hemd, nieder, der Zopf pendelt ihr vor der Brust, ihre nackten Knie fühlen das kalte Linoleum. Bitte, lieber Herr Doktor,

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