Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
Verehrer des Pfarrers Kneipp, Privatphilosoph, er war gefürchtet streng, indes voller Güte. Mit riesigem vorgerecktem zweizipfeligem Rauschebart à la Felix Dahn, einem goldenen Kneifer und weißen Gamaschen-Überschuhen mit Knöpfen, die er bei jedem Wetter trug, lief er seltsam stelzend, die Hände auf dem Rücken, in seinem Sanatorium umher, sah alles, griff ein, war rastlos. Wenn er mit seinen Patienten sprach, fasste er sie, egal welchen Alters und gleichgültig ob Frau oder Mann, bei den Schultern, redete intensiv und laut, bohrte seinen Blick in ihre Augen, war ganz Respektsperson, und doch witzelte man hinter seinem Rücken, denn er war ein Hagestolz, lebte allein, führte einen Junggesellenhaushalt.
In den Büschen am Rande des geschwungenen Kiesweges, der zu seiner Unterkunft führte, raschelte es. Dittrich lief leise, vorsichtig, mit den Fußspitzen auftretend am linken Rand des Pfades entlang, dort, wo der Kies festgetreten war und daher weniger Geräusch verursachte. Jetzt auf einmal war das Rascheln besonders rechts, wo das Gelände zum Wachwitzgrund abfiel, deutlich zu hören. Ob es wohl Mäuse sind? dachte Dittrich, oder nicht doch ein größeres Tier, ein Fuchs oder Marder, vielleicht ein Dachs? Und ein wenig graute ihm plötzlich vor einer unerwarteten Begegnung.
Näherkommend sah er zwischen den Bäumen kein helles Fensterlicht, nur im Erdgeschoss, wo die Wachschwester ausharrte, und gleich daneben im Zimmer des Chefarztes, schimmerte ein gelbrötlicher Schein durch die zugezogenen Gardinen in die Nacht des Kurparkgeländes.
Vorsichtig trat Dittrich ins Haus, ging links die Treppe hoch zu seinem Zimmer. Da sah er einen weißen Nachthemdzipfel huschen. Was war das? Spukte es? Schon ein wenig müde schloss er seine Türe auf, warf die Jacke aufs Bett, trat sich die Schuhe von den Füßen, ging zur Waschecke, goss sich Wasser aus dem großen geblümten Porzellankrug in die Schüssel, entledigte sich seiner Oberbekleidung, da hörte er an seiner Tür ein Kratzen, ganz so, als ob jemand mit dem Fingernagel am Holz schrammt. Nanu? dachte er, wer schleicht da vor meinem Zimmer herum. Er legt die Seife weg, trocknet sich die Hände, geht zur Tür, lauscht. Er weiß genau, der da draußen spannt wie er, fast meint er ihn atmen zu hören. Mit einem Ruck reißt er die Tür auf. Das Nachthemd huscht hinter die Säule am Treppenaufgang.
Kommen Sie, Fräulein Lilly, es ist zu spät zum Versteckspielen. Was soll das? Kommen Sie, ich lass meine Tür offen. Dittrich tritt zurück in sein Zimmer, zieht sich das Hemd über, wartet. Leichte Mädchenschritte kommen näher. Das Nachthemd erscheint. Es ist tatsächlich die kleine Lilly. Lilly Schneider, des Malers Sascha Schneider Schwester, das Mädchen von Zimmer 204. Vor zwei Wochen, gleich zu Beginn seiner Kur, hat er sie das erste Mal getroffen, da waren die Mays zu Besuch und Klara hat sie miteinander bekannt gemacht. Sie hatten das Mädchen am Vortage hierherbegleitet, May hatte bei seinem Freund, dem Doktor, eine Kur für sie vermittelt. Dann, vor drei Tagen beim Mittagessen, sie kam gerade mit ihrem Tablett an seinem Tisch vorbei, hat sie ihn freundlich, wenn auch ein wenig schüchtern, gegrüßt und gesagt, sie würde gern einmal mit ihm reden wollen, zumal sie ja gemeinsame Bekannte hätten. Ja, meinetwegen, hat er gesagt und seine Suppe weitergelöffelt und dann hat er, Dittrich, beschlossen, sie in den nächsten Tagen zu einem Spaziergang im Gelände der Anstalt einzuladen oder mit ihr gar, wenn sie einwillige, an einem Nachmittag hinunter an den Schillerplatz zu wandern, um im Schillergarten eine Erfrischung zu nehmen. Doch dazu sei es ja nun nicht gekommen, sagt sich Max Dittrich, jetzt stehe sie in seinem Zimmer, sei offenbar noch nicht einmal verlegen, wirke eher wie die wandelnde Unschuld und er sieht, ein wenig verlegen, die junge Frau hat nicht einmal Strümpfe an, sie steht mit nackten Beinen in seinem Zimmer. Er zeigt auf ihre Waden, sagt leise und väterlich, sie werde sich erkälten und ihrem Ischias diene es keineswegs.
Ach, entgegnet sie, wenn ihr kalt werde, dann hole sie ihren Morgenmantel schon noch. Dass sie hier im Nachthemd stehe, verhalte sich folgendermaßen: Sie habe sich ins Bett gelegt, pünktlich, wie es Vorschrift sei, sie habe gelauert, bis die Schwester ihren Rundgang beendet hätte, dann gegen elf sei sie aufgestanden und auf den Gang hinausgegangen, habe sich an der Treppe aufgestellt und gewartet, denn ihn, Herrn
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