Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
oft über Wohl und Wehe oder über manche Kleinigkeit und Annehmlichkeit entscheide …
Karl May, der den Löffel inzwischen mit seltsamer Gewissenhaftigkeit akkurat im rechten Winkel zur Tischkante abgelegt hatte und jetzt mit dem Finger noch eine Korrektur vornahm, die Lage des Esswerkzeuges sozusagen um eine Winzigkeit verändernd, sah erstaunt auf. Oh, mein Herzle, sagte er und seine Stimme klang heiser, du weißt gar nichts von meinem Maxe und noch viel weniger über das Gefängnis. Das sind Vorurteile. So denken die, welche nie aus dem Blechnapf aßen. Dann müsste ja auch ich …
Ach, Karl, klagte Klara, du verstehst mich falsch. So war das nicht gemeint. Ich habe Sorge um deinen guten Ruf. Wenn irgendeiner herausbekommt, woher ihr euch kennt und was euch aneinander bindet, dann ist das Öl ins Feuer deiner Gegner, und gerade jetzt, wo wir gegen Leute wie die Pauline antreten müssen, könnte es gefährlich werden …
May antwortete nicht, er stützte den Kopf in die Hände, schwieg und alte Erinnerungen begannen auf ihn einzudringen:
… Es ist ein später Nachmittag im Frühsommer, die Arbeit ist getan, lärmend, mit ihren schweren Holzschuhen die drei Eisentreppen hinunterklappernd, sich miteinander gedämpft, aber ohne zu flüstern unterhaltend, was das Geräusch eines summenden, brausenden Bienenschwarmes ergibt, sind die siebenundsechzig Gefangenen auf dem Weg zum Erdgeschoss, wo das Tor zum Freihof weit offen steht. Das Licht der Abendsonne, Luft, ein leichter Windhauch dringen herein. Neben den schweren schwarzen Torflügeln stehen zwei Wachtmeister, der eine links, der andere rechts; sie wiederholen abwechselnd in monotonem Singsang:
Abstand nehmen! Es gibt keine Unterhaltungen, Herrschaften. Wer quasselt, kriegt eine Anzeige. Immer zu Zweien nebeneinandergehen. Aufgepasst, nicht drängeln!
Ab und zu aber werden die Anweisungen unterbrochen, dann ist ein kleiner Stau oder ein „Kuddelmuddel“, ein Vorkommnis, entstanden, die Wachtmeister müssen eingreifen. Laut werden Namen gerufen, denn natürlich ist jeder Insasse dem Personal bekannt.
Hartmann! Wenn ich das noch mal erlebe, gibt’s vierzehn Tage keinen Hofgang. Hallo, vorn im Takt bleiben! Lunzenauer, wir haben’s genau gesehen! Sie melden sich nach dem Freigang beim Inspektor. Der Angesprochene hatte seinen Vordermann in den Rücken geboxt. Nichts Ernsthaftes. Irgendeine kleine Rangelei gibt es unter den Gefangenen immer. Dann, nach dieser Unterbrechung, beginnt der Wachtmeister aufs Neue:
Keine Unterhaltung! Abstand nehmen! Quasseln ist verboten!
Die Gefangenen von Schloss Osterstein aber, der größten Strafanstalt im westlichen Sachsen, ganz in der Nähe von Zwickau, die Gefangenen quasseln doch. Nur, wenn sie an den beiden Posten mit kurzen Schritten, von vorn gebremst und von hinten geschoben, vorbeitappen, werden sie still, beißen sie sich auf die Lippen, kaum ist das Hindernis indes überwunden, unterhalten sie sich wieder in jenem halblauten Gefangenen-Flüsterton, der nur drei, vier Schritte weit trägt, und bei dem der Mund beinahe unbewegt bleibt, der aber, würde er laut und vernehmlich posaunt, eine der angedrohten Anzeigen einbrächte, was in jedem Fall bedeutet: Freigangsentzug, Strafarbeiten, keine Briefe, keine Bücher … und wer weiß was noch. Der Fantasie des Inspektors sind in diesem Punkt kaum Grenzen gesetzt.
May, der Strafgefangene mit der Nummer 171, die er wie alle anderen auf ein gelbes Stoffquadrat gestempelt an der Brust der Anstaltsjacke trägt, ist heute in Hochform. Er unterhält sich gleichzeitig mit seinem Vorder- wie seinem Hintermann, denen er mitteilen muss, was sein Herz so hüpfen lässt. Und irgendwie, so geht es immer in der Anstalt, haben die gehört, dass er, May, einen „Dusel“ haben soll, irgendein verdammtes Glück, sie wissen nur nicht was …
Das ist eine Scheißhausparole, dass der vorzeitig rauskommen soll, murmeln sie. Glaub nur das nicht, Mensch! Es wird was andres sein …
May kann nicht an sich halten: Ich soll beim Göhler im Bläserkorps mitmachen und außerdem, weil der Katechet erfahren hat, dass ich noch andere Talente besitze, im Kirchenchor. Das bedeutet zwei Mal oder mehr Proben in der Woche. Raus aus der Tretmühle … etwas Höheres tun.
Was Höheres tun? Andere Talente! Andere Talente? Was kannst du denn schon, Männeken? Sollst wohl Posten tragen? Vorsicht Leute, wer weiß, was der May nach außen trägt. Der hat Spionageauftrag bekommen!
Quatsch mit Soße!
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