Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
Klara, mit einem Seitenblick, hakt sich bei Emma unter. Wollen wir nicht wieder lieb sein?
Meinetwegen, sagt Emma, gut, komm noch auf ein paar Minuten mit zu mir, Mausel.
Die Damen entfernen sich, doch aus einem Hauseingang hinter ihnen löst sich ein Schatten, der ihnen folgt. Der Schatten gehört einem Mann von ungefähr fünfunddreißig Jahren, Brillenträger, ein wenig untersetzt, Oberlippenbärtchen, ziemlich nachlässig gekleidet. Vorsichtig geht er den Frauen nach. Als sie vor Emmas Haus angekommen sind, bleibt er stehen und kritzelt etwas in ein kleines Büchlein … Klara, die sich umgewendet hat, sieht den Mann, erschrickt. Da ist er wieder! denkt sie, aber da der keine Anstalten macht, ihnen zu folgen, sondern stattdessen die entgegengesetzte Richtung einschlägt, beruhigt sie sich. Vielleicht ein Zufall! denkt sie. Was bleibst du stehen, Mausel? hört sie Emma fragen. Komm nur, wir wollen wenigstens noch eine Tasse Kaffee trinken. So komm doch endlich, wie lange soll ich die Türe noch aufhalten? Zögernd tritt Klara May in den dunklen Hausflur …
* * *
Am nächsten Tag, nach dem Vertragsabschluss bei Dr. Neumann. Es war ein warmer spätherbstlicher Tag mit Temperaturen nahe achtzehn Grad Celsius. Emma Pollmer, langsam durchs Stadtzentrum spazierend, freute sich am Wetter. Ging durch die Schützengasse. In der Nähe des Theaterplatzes kam sie an einem Café vorbei. Es war früher Nachmittag. Man hatte ein paar Stühle in die Herbstsonne gestellt. Sie wollte vorbeigehen, überlegte, ob sie nicht eine Schokolade trinken sollte, da grüßte sie von diesen Stühlen aus ein Herr, stand auf, kam in lässiger Vertraulichkeit auf sie zu. Es war ein noch junger Mann, um die vierzig, das Haar dunkelblond, auf dem Scheitel schon ein wenig licht, mit einem Kneifer, goldfarbiges Drahtgestell, hell, locker angezogen, wenn auch in etwas abgetragenem Anzug. Aus seinem blassen, frechen Gesicht, in dem die Nase etwas schief stand, stachen die Augen hell und scharf, wie bei einem Reiher, hervor.
Gnädigste! Hab ich Sie doch erkannt, rief er fröhlich und verbeugte sich, streckte Emma die Hand hin. Emma schrak auf. Zögernd reichte sie ihre Hand. Sie wüsste nicht, sagte sie, wie sie zu der Ehre käme. Der Mann machte einen artigen Diener, lächelte.
Lebius, Rudolf Lebius aus Dresden! wenn Sie gestatten. Er habe ihr doch die Ansichtskarte vom Zwinger geschrieben, fuhr er mit großer Sicherheit fort, und sich persönlich angekündigt. Erinnern Sie sich nicht mehr, Gnädigste? „In für Sie wichtigen Angelegenheiten“, schrieb ich, und endete mit „Ihr Racheengel“? Erinnern Sie sich jetzt?
Natürlich erinnerte sich Emma. Diese Karte war ja diejenige, an die sie dachte, als sie gestern vor Klara und diesem Dr. Neumann von ihren neuen Freunden gesprochen hatte. Da ist es freilich eine Übertreibung, nur eine vage Hoffnung gewesen, eine Vermutung, ein Strohhalm, eine Ahnung, endlich und unerwartet Verbündete zu bekommen in ihrem Kampf gegen die Ungerechtigkeit, die ihr widerfahren ist. „Racheengel!“, das hat sie gern gelesen, ja, einen solchen Racheengel brauchte sie jetzt. Gestern in ihrer Wohnung, nach der Verhandlung, beim Kaffee mit der Mausel hat sie sich freilich wieder verstellen müssen und die Freundin gespielt, die weder nachtragend ist noch an Rache denkt und die dankbar, wenn auch ein wenig traurig ist, und sie hat versucht, wenn auch ohne großen Erfolg, noch etwas mehr zu erfahren und herauszubekommen. Oh, sie wird ihren Karl wiederkriegen! Das weiß sie. Sie muss es nur schlau anfangen, alle weiblichen Listen anwenden, sich verstellen. Ja, sie wird ihn wiederkriegen. Und sie liebt ihn immer noch, auch, wenn sie ihm das Gesicht zerkratzen möchte, und der falschen Mausel dazu. Die haben sie überlistet, die beiden, ihre Dummheit und Naivität, ihre unüberlegte Schwatzhaftigkeit ausgenutzt. Aber jetzt! Alle Listen, alle Schliche wird sie anwenden, mit dem Teufel wird sie paktieren, wenn es darauf ankommt; und dafür braucht sie einen „Racheengel“. Damit sie ihr Ziel erreichen kann. Oh ja, diese Karte und dieser Mann hier, dieser Lebius, die sind ihr gerade recht gekommen. Gott schickt einem zur rechten Zeit schon die richtigen Leute. Aber, sagte sie sich, sie will jetzt vor diesem Herrn, den sie gar nicht kennt, noch nicht gleich die Besiegte geben, sie will ihn ein wenig hinhalten, will erst einmal sehen … Das beschloss die Emma Pollmer, und sie kam sich siegessicher und raffiniert
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