Die Gejagte
andere.
Umringt von einem Kreis aus Laternen, gingen sie immer weiter einen Gang hinunter, der sich endlos in die Länge zog. Andere Gänge zweigten davon ab. Dieser unterirdische Ort hier war offensichtlich sehr weitläufig – und sie drangen immer tiefer und tiefer hinein.
Das stetige Gehen beruhigte Jenny ein wenig. Die Felsen um sie herum nahmen jede nur erdenkliche Form an – wie verdrehte Geweihe, wie vom Wind verwehtes Gras; es gab Wasserfälle von Engelshaar und riesige Säulen, bedeckt mit seltenen Blumen oder den Lamellen von Pilzen.
Die Luft roch nach regenfeuchter Erde. Es war überraschend warm.
Jenny verstärkte ihren Griff um Audreys Arm.
»Sag etwas zu ihnen«, schlug sie leise vor. »Frag sie, wohin wir gehen.«
Auf ihre Weise war Audrey genauso mutig wie Dee. Ihre stachligen Wimpern waren vom Weinen verklebt und sie sah die Elfe an ihrer Seite nicht an. Dennoch richtete sie mit gelassener Stimme das Wort an sie.
»Sie bringen uns zum Erlkönig«, übersetzte sie kurz darauf mit zittriger Selbstbeherrschung in der Stimme. »Das bedeutet – König der Elfen, glaube ich. Ich erinnere mich an die Geschichte über den Erlkönig. Er ist eine Art böser
Geist. Er – holt sich angeblich Menschen. Vor allem junge Mädchen und Kinder.«
Dee stürzte sich auf diese Information. »Warum Mädchen?«
»Dreimal darfst du raten«, zischte Audrey mit zusammengebissenen Zähnen. »Alle dunklen Elfen sind so. Nun ja, seht sie euch nur mal an. Es sind alles Männer. Eine männliche Rasse.«Wie unter Schock begriff Jenny, dass Audrey recht hatte. Jenny hatte sich von ihren zarten Zügen täuschen lassen.
Die Elfen, die sie gefangen hielten, waren schön – und männlich. Jeder einzelne.
Dees Grinsen war blutrünstig. »Zeit zu kämpfen.«
»Nein«, widersprach Jenny angespannt. Ihr Herz hämmerte wild, aber sie versuchte, ruhig zu bleiben. »Es sind zu viele, wir haben keine Chance. Und überhaupt, wir sollen uns unseren Albträumen stellen, erinnert ihr euch? Wenn der Erlkönig das ist, wovor Audrey sich am meisten fürchtet, dann ist er auch derjenige, dem wir uns stellen müssen.«
»Ohnehin ein dummer Albtraum«, zischte Dee und krümmte ihre geschmeidigen Schultern, als gleite ein Eiswürfel ihren Rücken hinunter.
»Glaub mir«, erwiderte Audrey schneidend, »ich wünschte, diesen Traum nicht ausgerechnet mit dir durchstehen zu müssen.«
Die beiden Mädchen würdigten sich keines Blickes mehr, während sie weiter durch die unterirdischen Höhlen
wanderten, groß wie Kathedralen. Glitzernde weiße Gipskristalle schienen die Wände zu pudern und dämpften das Laternenlicht. Grober Felsstaub knirschte unter Jennys Füßen.
»Ich verstehe nicht«, flüsterte Audrey. »Dies kann einfach nicht meinem Geist entsprungen sein. Ich habe noch nie etwas wie das hier gesehen.«
»Aber ich«, bemerkte Dee, und selbst ihre Stimme war gedämpft. »Bei einer Höhlenexpedition in Neu Mexiko. Aber es war nicht so – heftig .«
Schließlich gelangten sie in die größte Höhle von allen.
Sie passierten riesige rote Säulen, die wie Korallenriffe aussahen und Jenny das verwirrende Gefühl gaben, unter Wasser zu sein.
Dann bewegten sie sich direkt auf eine gewaltige Wand aus flammend rotem Fels zu. Sie war nicht flach. Sie kräuselte sich immer weiter in die Höhe wie ein umgekehrtes Abbild der Niagarafälle. Auf Bodenhöhe befand sich eine Lücke in der Wand, unregelmäßig geformt – wie ein Eingang.
»Die Burg«, übersetzte Audrey leise.
Sie schritten durch die Lücke in der flammend roten Felswand.
Im Inneren machten sich die Elfen daran, die Mädchen aufzuteilen. Es geschah so schnell, dass Jenny keine Zeit hatte zu reagieren. Binnen eines Bruchteils von Sekunden wurde sie weggeführt, und als sie hektisch den Kopf drehte, sah sie, dass Dee und Audrey in die entgegengesetzte Richtung
gebracht wurden. Sie sah, wie sich Audreys kupferfarbener Kopf ruckartig bewegte, und hörte Dees zornig erhobene Stimme. Dann verklang die Stimme und Jenny wurde durch eine weitere Lücke in einen großen Raum geführt.
Einer der Elfen sagte etwas auf Deutsch, das mit »Erlkönig« endete, und dann gingen sie alle hinaus. Als Jenny durch die Lücke schaute, stellte sie fest, dass sie auf der anderen Seite des Raumes Wache standen.
Was jetzt?
Sie sah sich um. Die Felsformationen hier wirkten wie riesige Sandburgen, halb von Wasser geschmolzen, weiß und golden vom Mondlicht erhellt. Jenny blickte auf. In der
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