Die Gejagte
ihren Griff. Der Stock gab eine gute Waffe ab.
»… und der Wolf«, vollendete Audrey ihren Satz mit verdächtig ruhiger Stimme. Sie schob sich einige Haarsträhnen in ihre Hochsteckfrisur zurück. Ihre Lippen waren fest zusammengepresst. Die drei Mädchen warfen einander einen Blick zu, dann gingen sie weiter. Was blieb ihnen auch anderes übrig?
»Seltsam, dass dieser Wolf genau in dem Moment aufgetaucht ist, als du ihn erwähnt hast«, meinte Dee.
»Es sei denn …« Jenny blieb jäh stehen. »Wartet mal. Lasst mich eine Minute nachdenken.« Sie grübelte für einen Moment, bis es beinah hörbar Klick bei ihr machte. »Ja. Es ist überhaupt nicht seltsam, dass der Wolf gerade dann erschienen ist, als Audrey von ihm sprach. Versteht ihr denn nicht? Er nimmt das alles aus unserem eigenen Geist.«
»Wer?«, fragte Audrey, und ihre wohlgeformten Nasenflüge l bebten.
»Wer wohl? Julian natürlich. Der Schattenmann. Er erschafft dieses Spiel um uns herum – oder wir tun es selbst –, aber so oder so, es besteht nur aus unseren eigenen Gedanken. Dieser Flur zum Beispiel – das ist genau der Flur aus dem Spukhaus in Disneyland. Er hat mir als Kind immer Angst gemacht – also ist er meinem Geist entsprungen. Und die Tür im Ufo war wie die Flugzeugtür, die ich einmal während eines Fluges angestarrt habe.«
Dees Augen blitzten wie die eines Jaguars. »Und der Salon – die Lampe darin habe ich mal in Jamestown gesehen. Ich hab mich schon gefragt, was sie hier zu suchen hat.«
»Alles – jede Einzelheit – kommt von uns«, stellte Jenny fest. »Nicht nur die großen Dinge, sondern auch die kleinen. Er benutzt unseren Geist gegen uns.«
»Also, was wird als Nächstes passieren, Audrey?«, fragte Dee. »Du solltest schließlich am besten wissen, was dir am meisten Angst macht. Ich meine, sollten wir nach herumlaufenden Bäumen oder kleinen Männern in Kapuzen Ausschau halten oder was? Oder war es dieser Wolf?«
»Ich war erst acht, als ich hier in der Nähe gelebt habe«, erwiderte Audrey kalt. »Und nein, ich erinnere mich nicht daran, welche Geschichte mich … am meisten … beunruhigt hat. Ich hatte ein deutsches Kindermädchen und sie hat mir alle Märchen erzählt.«
Sie funkelte Dee an und Dee funkelte zurück.
Jenny war klar, dass sie die Wogen so schnell wie möglich glätten musste. »Alles könnte hier passieren. Wir könnten etwas begegnen, das sowohl aus Audreys Geist genommen
wurde als auch aus deinem oder meinem, Dee«, sagte sie. »Man kann es deutlich spüren.«
In ihrem tiefsten Innern wusste sie, dass es etwas Schlimmeres als der Wolf sein würde. Etwas weniger Irdisches. Da Audrey eine Abneigung gegen alles Übernatürliche hatte, lag der Schluss nahe, dass es – was auch immer es sein würde – alles andere als irdisch war.
Denk daran, es ist nur ein Traum, sagte sie sich. Doch zugleich erinnerte sie sich an Julians Stimme: »Ich kann dir gleich sagen, dass einer von euch es wahrscheinlich nicht schaffen wird.« Sie gingen weiter. Das Unterholz griff wie mit kleinen Fingern nach Jennys Rock. Der Duft der Tannen umgab sie wie tausend Weihnachtsbäume. Alles, was Jenny sehen konnte, waren Dunkelheit und das endlose Dickicht des Waldes. Ihre Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt.
Da tat sich eine Lichtung auf und sie stolperten geradewegs darauf zu.
Ein einziger großer Baum wuchs dort – eine Eibe, dachte Jenny. Der Baum stand vor einem großen Haufen Felsen und Gesteinsbrocken, die aussahen wie die Reste eines Gletschers. Der Baum hatte eine raue Rinde, dunkelgrüne Nadeln und rote Beeren.
Um ihn herum war eine Gruppe junger Männer in merkwürdigen Kleidern versammelt.
Sie trugen Hosen und lange Überröcke aus Leder, die mit Pelz besetzt waren und sehr altertümlich aussahen. Ihre muskulösen Arme waren nackt. Der Boden neben
dem Baum war gerodet worden und jemand hatte einen Kreis darauf gezeichnet. In dem Kreis brannte ein Feuer, und das rote Licht glitzerte auf den Dolchen und auf etwas, das wie Trinkhörner aussah. Die ganze Umgebung war mit Blumen geschmückt.
»Ist wohl eine Art geheime Zeremonie«, flüsterte Dee. »Und wir spionieren sie aus«, fügte sie genüsslich hinzu.
»Die sehen aber wirklich gut aus«, murmelte Audrey.
Da musste Jenny ihr recht geben. Jenny zählte sieben junge Männer, vier mit blondem Haar und drei mit dunkelblondem, die aussahen, als seien sie zwischen achtzehn und zweiundzwanzig. Wenn das, was sie da taten,
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