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Die Gejagte

Die Gejagte

Titel: Die Gejagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa J. Smith
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wintergrauen Augen. Er legte seine langen Künstlerfinger über Dees und Audreys Hände.
    »Richtig«, flüsterte Michael und ergriff Zachs Hand mit seiner massigen, rundlichen, ohne eine Spur von Verlegenheit.
    »Aber es gibt nichts, was wir tun können«, sagte Jenny, die beinah wieder weinte. »Er hat gewonnen. Ich habe verloren. Ich habe es nicht durch meinen Albtraum geschafft. Diese Tür« – sie deutete mit dem Kopf auf die Wandschranktür – »war immer schon hier. Sie ist nicht der Weg hinaus.«
    »Was ist mit der da?«, fragte Michael, trat zurück und schaute die Treppe hinauf.
    Jenny musste um das Bücherregal herumgehen, um seinem Blick zu folgen. Statt der leeren Wand, die sie vorher am oberen Ende der Treppe gesehen hatte, war dort jetzt wieder eine Tür.
    In diesem Moment schlug eine unsichtbare Uhr fünf. Direkt über ihnen – in irgendeinem Raum über ihnen.

    »Irgendwas musst du richtig gemacht haben«, stellte Dee fest.
    Jennys langer Rock war feucht und klebte ihr an den Beinen. Ihr Haar, das wusste sie, war vollkommen durcheinander. Sie war erschöpft und zitterte innerlich noch immer, und sie hatte das Gefühl, schon seit Jahren nicht mehr geschlafen zu haben.
    »Ich werde als Erste gehen«, erklärte sie und führte ihre Freunde die Treppe hinauf. Stolz wie eine Prinzessin, zumindest versuchte sie, so auszusehen, wie Dee immer aussah. Auf der obersten Stufe fand sie ihr Blatt Papier und trat darauf.
    »Wenn wir jetzt durch diese Tür ins Türmchen gelangen  – in die oberste Etage des Hauses –, haben wir gewonnen« , sagte Audrey. »Richtig?«
    Irgendwie glaubte Jenny nicht, dass es so einfach sein würde.
    Sie drehte den Knauf und die Tür schwang in geölten Angeln nach hinten auf. Sie waren im oberen Stockwerk. Aber der Raum war viel größer, als es irgendein Türmchen hätte sein können.
    Es war der Spieleladen.
    Na ja, mehr oder weniger, dachte Jenny. Da waren die gleichen Regale und Ständer und Tische mit den gleichen unheimlichen Spielen darauf. Da waren das gleiche kleine Fenster – ziemlich schummrig – und die gleichen Lampen mit Schirmen aus purpurnem, rotem und blauem Glas.
    Aber es gab auch deutliche Unterschiede. Einer davon
war die Standuhr in der Ecke, die laut und gleichmäßig tickte.
    Der andere war Tom.
    Jenny lief auf ihn zu. Er war gegen die Uhr gepresst, schien irgendwie daran gefesselt zu sein. Angesichts dieser Demütigung loderte Zorn in ihr auf, aber nur für einen Moment, bevor sie sich um Wichtigeres kümmerte.
    »Tommy«, rief sie und streckte beide Hände nach ihm aus.
    Er drehte sich schwach zu ihr um und Jenny war schockiert. Zwar zeigte sein Gesicht keine Prellungen, aber er wirkte dennoch – mitgenommen. Seine Haut war von einer ungesunden Blässe und er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Sein sonst so verwegenes Lächeln war zu einer müden, gequälten Grimasse verblasst.
    »He, Thorny«, erwiderte er leise.
    Jenny drückte das Gesicht an seine Schulter und weinte.
    Jetzt war Tom nicht mehr nur eine ferne, verblasste Fotografie. Jenny erinnerte sich lebhaft an den Tag ihres ersten Kusses, in der zweiten Klasse, hinter den Hibiskusbüschen der George-Washington-Grundschule. Sie hatten beide nachsitzen müssen, aber das war es wert gewesen.
    Dieser Kuss, dachte sie. So unschuldig. So süß. Damals war Tom noch nicht arrogant gewesen, hatte nichts für selbstverständlich genommen. Damals hatte Tom sie geliebt.
    »Tommy«, wiederholte sie. »Ich hab dich so sehr vermisst. Was hat er dir angetan?«

    Tom schüttelte den Kopf. »Kaum etwas … ich verstehe es nicht. Da waren die Ratten« – er ließ einen gehetzten Blick über den Boden gleiten –, »aber jetzt sind sie verschwunden.«
    Ratten. Sie waren es also gewesen, die Tom im Salon gesehen hatte – die unsichtbaren Dinger, die versucht hatten, an seinen Beinen hinaufzuklettern. In der zweiten Klasse hatte Tom eine Schildkröte gehabt und sein älterer Bruder Greg eine zahme Ratte. Und eines Morgens nach dem Aufwachen mussten sie feststellen, dass die Ratte die Schildkröte gefressen hatte – direkt aus ihrem Panzer.
    Ich wusste doch, wie sehr ihn das damals aufgeregt hat – wie sehr er Ratten seitdem gehasst hat, dachte Jenny. Warum hab ich im Salon nicht gleich begriffen, was los war?
    Weil ihr die Sache mit den Ratten nicht schlimm genug für eine solche Angst erschienen war. Und Tom hatte solche Angst gehabt. Aber eins hatte Jenny inzwischen gelernt: Der eigene Albtraum

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