Die Gejagte
ich dir das alte tibetische ›Ziegen und Tiger‹-Spiel gezeigt?« Mit einer seiner mühelosen, fließenden Gesten lenkte er Jennys Blick auf das Bronzebrett, das auf einem Tisch stand. Winzige Figuren, ebenfalls aus Bronze, waren in etwa so wie Schachfiguren darauf angeordnet.
»Nun, das ist es, was ihr wirklich gespielt habt«, sprach
Julian weiter, und beim Klang seiner Stimme hatte Jenny das Gefühl, dass die Wände um sie herum immer näher rückten. Er lächelte sie ganz besonders an.
»Ihr alle seid die unschuldigen kleinen Ziegen … und ich bin der Tiger .«
Tom umfasste Jennys Hände so fest, dass sie taub wurden. Dee hatte sich in Angriffsposition gebracht, linkes Bein vorn, rechtes Bein hinten, sprungbereit. Zach wirkte trostlos und Audrey und Michael waren dichter zusammengerückt.
»Du hast doch wohl nicht wirklich geglaubt«, sagte Julian zu Jenny, »dass ich euch gehen lassen würde.«
Jenny war schwindlig. Sie fühlte sich erdrückt.
»Du hast gesagt … dass du fair spielen würdest«, stieß sie atemlos hervor. »Du hast mir versprochen …«
»Nun ja, ich will nicht kleinlich sein. Und ich spiele fair. Aber tatsächlich sagte ich, wenn ihr es vor Tagesanbruch bis zum Türmchen schafft, würdet ihr eine Tür finden, die offen steht und nach Hause führt. Sie steht offen – es ist nur so, dass ich nicht zulassen werde, dass ihr hindurchkommt.«
Jenny betrachtete die beiden Tiere, die den Ausgang bewachten. Sogar Dee hätte Schwierigkeiten, gegen sie zu kämpfen.
»Übrigens, unser Tommy hat sich seinem echten Albtraum noch nicht gestellt. Aber es ist noch reichlich Zeit. Wir haben nämlich so etwas wie die Ewigkeit vor uns«, sagte Julian. Seine Augen waren wie flüssiger Kobalt –
und ausgehungert. Hungriger als die Augen des Wolfs, der Jenny und Tom durch den Türspalt anstarrte.
Oh Gott, steh mir bei, dachte Jenny. Bitte, irgendjemand muss mir helfen. Sie sah Tom an. Aber Tom hatte seinen Blick auf Julian gerichtet, so voller Hass und Zorn, dass Jenny Angst bekam.
»Dann war dieses ganze ›Spiel‹ eine Farce«, sagte Tom und spie die Worte beinahe aus. Seine grün gesprenkelten Augen brannten.
Julian breitete die Hände aus und neigte leicht den Kopf – es war beinahe eine Verbeugung. Als hätte ihm jemand zu einem gut erledigten Job gratuliert. Aber es war Jenny, an die er das Wort richtete.
»Ich habe dir gesagt, dass ich alles tun würde, um dich zu bekommen. Zuerst war ich mir sicher, dass ihr das Spiel verlieren würdet – wie die meisten Menschen. Als ich dann sah, dass ihr tatsächlich eine Chance hattet zu gewinnen, dachte ich, ich könnte dich dazu bringen, mich um Hilfe zu bitten. Aber das wolltest du einfach nicht. Sie ist sehr stark, weißt du«, fügte er hinzu und warf Tom unter seinen schweren Lidern einen Blick zu. »Viel zu gut für dich.«
»Ich weiß«, erwiderte Tom, und Jenny sah ihn erstaunt an. »Aber sie ist tausendmal zu gut für dich .«
»Aber genau deswegen will ich sie – wegen ihrer Güte«, gab Julian zurück und lächelte. »Licht für meine Dunkelheit. Du wirst schon sehen – Tommy. Du hast viel Zeit, Jahr um Jahr um Jahr, um festzustellen, wie gut sie und ich
zusammenpassen.« Er wandte sich wieder an Jenny. »Wie dem auch sei, nun seid ihr also so weit gekommen, und ich fürchte, ich muss euch die Wahrheit sagen. Die darin besteht, dass das ganze Spiel einfach – ein Spiel war. So wie eine Katze mit einer Maus spielt.«
»Bevor sie die Maus frisst?«, fragte Dee mit messerscharfer Stimme.
Julian würdigte sie kaum eines Blickes. »Ich hungere im Moment nur nach einer Sache, Deirdre. Aber meine Freunde an der Tür haben seltsame Gelüste. Ich würde an eurer Stelle nicht in ihre Nähe gehen. Und natürlich sind da all die anderen Schattenmänner – die über mir stehen, die uralten, knochenaussaugenden Geister, die sich die Lippen lecken –, sie alle würden sich euch gern holen. Dieses Haus hält sie draußen – aber sobald ihr ein Fenster öffnet, werdet ihr nicht weit kommen.«
Jenny spürte das Zittern in Toms geballten Fäusten und senkte den Kopf. Sie dachte an das Gedicht im Keller ihres Großvaters.
Wie die anderen Irren, die über dieselben Steine rutschten, spielten und verloren …
Verlor jeder gegen den Schattenmann?
Die Karten sind gezinkt, dachte sie. Du kannst nicht gewinnen.
Alle Wetten sind ungültig.
»Sie alle würden dich liebend gern mit ihren Zähnen durchbohren«, sagte Julian gerade zu Dee.
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