Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
Beste. Das Rad dreht sich immer weiter … Wenn ich mir vorstelle, dass ich mal verrückt nach dir war!«
Sie rutschte vorsichtig von ihrem Hocker, ging an die Rezeption und bat, man möge ihr für den nächsten Tag die Rechnung fertig machen. Dann ging sie nach oben in ihr Zimmer und nahm ein Bad.
Sie entspannte sich im duftenden Schaum, spielte mit den schillernden Bläschen, brachte sie zwischen zwei Fingern zum Platzen und erzählte den Spiegeln an den Wänden von ihrem künftigen Glück, als sie plötzlich einen Fußtritt in ihrem Bauch spürte. Ihr blieb die Luft weg, sie krümmte sich, Freudentränen liefen ihr über die Wangen, sie stieß einen Schrei aus und glitt mit dem Kopf unter Wasser: »Junior!« Es war Junior!
Beine zogen vor Joséphines Augen vorbei. Schwarze Beine, beigefarbene Beine, weiße Beine, grüne Beine, karierte Beine. Über den Beinen liefen Hemden, Poloshirts, Jacketts, Regenmäntel, Mäntel. Lärm und ein unaufhörlicher Reigen. Vom Laufsteg wirbelte Staub auf, der in ihrer Kehle und ihren Augen brannte. Sie saßen in der ersten Reihe, nur auf Armeslänge von den Models entfernt. Hortense saß neben Jo. Sie saß sehr gerade und machte sich konzentriert Notizen. Iris war nach New York geflogen. Vor ihrer Abreise hatte sie zu Jo gesagt: »Ach übrigens, ich habe zwei Karten für die Präsentation der Männerkollektion von Jean-Paul Gaultier. Warum gehst du nicht mit Hortense hin? Das würde sie sicher interessieren, und dich könnte es zu einem neuen Roman inspirieren. Wir wollen doch nicht ewig im Mittelalter bleiben, nicht wahr, Kleines, vielleicht überspringen wir für den nächsten ein paar Jahrhunderte …« Ich werde weder ein zweites, noch ein drittes Buch für sie schreiben, dachte Joséphine, während sie einen Mann im Kilt beobachtete, der sich vor ihr drehte. Joséphine hatte die auf den Namen Iris Dupin ausgestellten Einladungen genommen,
hatte ihrer Schwester gedankt und gesagt, dass Hortense begeistert sein würde. Dann hatte sie ihr noch einen schönen Aufenthalt in New York gewünscht. »Ach, weißt du, wir fliegen nur kurz hin und wieder zurück. Bloß übers Wochenende …«
Verstohlen betrachtete Joséphine ihre Tochter. Sie musterte jedes einzelne Kleidungsstück, notierte Details, skizzierte Revers, Ärmel, Hemdkragen, eine Krawatte. Ich wusste nicht einmal, dass sie sich für Herrenmode interessiert. Hortense hatte ihr Haar zusammengesteckt, und vor lauter Konzentration schaute ihre gekrümmte Zungenspitze zwischen den Lippen hervor. Die Leistungsfähigkeit ihrer Tochter erstaunte sie. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Laufsteg. Iris hat recht: beobachten und sich Notizen machen. Immer. Sogar bei Themen, die einen nicht interessieren, wie diese unglaublich attraktiven Männer, die mit großen Schritten an ihr vorbeiliefen. Manche gingen sehr gerade, den Blick ins Nichts gerichtet, andere lächelten und winkten Freunden im Publikum zu. Nein, ich werde keinen zweiten Roman für Iris schreiben! Das Getue ihrer Schwester ärgerte sie. Nicht, dass sie eifersüchtig gewesen wäre, im Gegenteil, ihr graute vor solchen öffentlichen Auftritten, nein, was sie wirklich ärgerte, war, mit ansehen zu müssen, wie das, was sie geschrieben hatte, zu einer unsäglichen Parodie verzerrt wurde. Iris erzählte haarsträubenden Unsinn. Verteilte Kochrezepte, Schönheitstipps, die Adresse eines romantischen Hotels in Irland. Joséphine schämte sich. Und immer wieder sagte sie sich: Ich bin schuld an dieser Farce. Ich hätte mich niemals darauf einlassen dürfen. Ich war schwach. Ich bin dem Lockruf des schnellen Geldes erlegen. Sie seufzte. Aber das Leben war in der Tat leichter geworden. Sie musste nicht mehr rechnen. Würde nie wieder rechnen müssen. Weihnachten würde sie mit den Mädchen in die Sonne fliegen. Sie würde in einem Hochglanzkatalog ein Reiseziel aussuchen, und dann würden sie alle drei zusammen in Urlaub fahren.
Hortense blätterte die Seiten ihres Skizzenhefts um, und das Geräusch brachte Joséphine zurück in die Wirklichkeit. Ihre Aufmerksamkeit wurde von einem großen, dunklen Mann mit hageren Gesichtszügen angezogen, der den Laufsteg betreten hatte und nun an ihr vorbeiging, ohne die Welt zu seinen Füßen zu beachten. Luca! Er trug ein schwarzes Jackett und ein weißes Hemd mit langen, asymmetrischen
Aufschlägen. Sie zuckte zusammen. Er setzte einen Fuß vor den anderen, ohne nach rechts oder links zu schauen; sein
Weitere Kostenlose Bücher