Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
schwimmen wie sie. Bei jedem Wetter ging sie mit ihnen ins Wasser und schwamm mit ihnen hinaus. »Es gibt nichts Besseres, um den Charakter zu formen, als Schwimmen«, sagte sie immer. An diesem Tag war das Meer ruhig. Sie ließen sich auf dem Rücken treiben und schlugen gelegentlich mit den Füßen, während ihr Vater am Ufer außer sich geriet und wild mit den Armen ruderte. Irgendwann hatte ihre Mutter zum Strand geschaut und gesagt: »O ja, wir sind schon ziemlich weit abgetrieben, wir sollten zurück, vielleicht hat euer Vater recht, hier draußen kann das Meer gefährlich werden …« Doch sie kamen nicht zurück. Wie sehr sie auch schwammen, mit aller Kraft schwammen, die Strömung zog sie weiter hinaus. Der Wind hatte aufgefrischt, die Wellenkämme überzogen sich mit bedrohlichen Schaumkronen. Iris hatte angefangen zu weinen, »das schaffe ich nie, Maman, das schaffe ich nie«, ihre Mutter hatte die Zähne zusammengebissen, »sei still, hör auf zu weinen, das bringt nichts, schwimm!«, und Joséphine hatte die Angst in ihrem Gesicht gesehen. Der Wind war immer stärker, der Kampf härter geworden. Sie hatten sich an den Hals ihrer Mutter geklammert und Wasser geschluckt. Die Wellen schlugen ihnen ins Gesicht, das Salzwasser brannte in ihren Augen. Da hatte Joséphine gespürt, wie ihre Mutter sie von sich gestoßen hatte. »Lass mich los, lass los.« Sie hatte Iris unterm Kinn gepackt, ihr eine kräftige Ohrfeige verpasst, sie unter den Arm geklemmt und war mit ihr in Seitenlage zurück an den Strand geschwommen. Sie tauchte unter den Wellen hindurch, spuckte das Wasser zur Seite aus, bewegte sich mit kräftigen Beinschlägen vorwärts.
Sie war zurückgeblieben. Allein. Ihre Mutter hatte sich nicht mehr umgeschaut. Sie hatte gesehen, wie sie mehrmals versuchte, die Brandung zu überwinden. Mehrmals war sie zurückgeworfen worden, aber
sie hatte nicht aufgegeben und die bewusstlose Iris unterm Arm mit sich gezogen. Sie hatte gesehen, wie die beiden das Hindernis überwanden. Sie hatte ihren Vater gesehen, der schreiend am Ufer stand. Er hatte ihr leidgetan, und so hatte sie ihre Mutter imitiert. Einen Arm nach vorn in Richtung Strand ausgestreckt, den Kopf unter Wasser haltend, war sie in Seitenlage gegen die sich immer höher auftürmenden Wellen angeschwommen. Sie schluckte Salzwasser, spie es wieder aus, der Sand in den Wellen scheuerte in ihren Augen. »Nicht weinen«, sagte sie sich immer wieder, »ich habe nicht genug Kraft, wenn ich weine.« Sie erinnerte sich noch ganz genau an diese Beschwörung, »nicht weinen, nicht weinen …« Sie musste mehrmals neu ansetzen, bis eine Welle sie mit sich zog und auf den Strand warf, direkt vor die Füße ihres Vaters, der bis zur Taille im Wasser stand, ihr die Hand entgegenstreckte und immer wieder ihren Namen schrie. Er hatte sie der Welle entrissen, sie an sich gedrückt und fortgetragen. »Kriminelle, Kriminelle, Kriminelle«, hatte er immer wieder gerufen. Sie erinnerte sich nicht mehr daran, was danach passiert war. Sie hatten nie wieder darüber gesprochen.
Sie betrachtete die Ertrunkene im Spiegel. Warum machst du dir Sorgen, fragte sie das Mädchen im Spiegel, du hast es damals doch geschafft, du hättest sterben sollen, aber eine Hand hat dich in dieser Welle aufgefangen und dich am Ufer abgesetzt; also hab keine Angst, du brauchst nie wieder Angst zu haben, du bist nicht allein, Joséphine, du bist nicht allein.
Dessen war sie sich plötzlich ganz sicher: Sie war nicht allein.
Du wirst diesen Blick von Luca überleben, du wirst ihn genauso überleben, wie du den Blick deiner Mutter überlebt hast, die dich im Stich gelassen hat, ohne sich ein einziges Mal nach dir umzudrehen.
Sie trocknete sich das Gesicht ab, richtete ihre Frisur und puderte sich die Nase.
Ein kleines Mädchen erwartete sie in der Hotellobby. Ihre kleine, über alles geliebte Tochter. Das Leben war damals weitergegangen, das Leben geht immer weiter. Es bringt dich zum Weinen, und es lässt dich auch wieder lachen. Das ist das Leben, Joséphine, vertrau ihm einfach. Das Leben ist wie ein Mensch, ein Mensch, den du als Partner akzeptieren musst. Lass dich auf seinen Tanz ein, auf seine
Pirouetten, manchmal lässt es dich Wasser schlucken, und du glaubst, du müsstest sterben, doch dann packt es dich an den Haaren und setzt dich ein Stück weiter wieder ab. Manchmal tritt es dir auf die Füße, und manchmal lässt es dich fröhlich herumwirbeln. Du musst dich auf das Leben
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