Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
unumstößliche Tatsache, wie eine Mauer von Jericho, die keine Posaune jemals zum Einsturz bringen würde, da sie einander nicht anschrien, nicht mit den Türen knallten, niemals die Stimme erhoben. Sie beneidete die Paare, die einander Szenen machten. Nach einem ordentlichen Streit ist alles einfacher, dachte sie. Man schreit sich die Seele aus dem Leib, bis man nicht mehr kann, und dann fällt man einander in die Arme. Eine Ruhepause, in der die Waffen sinken und Küsse den Groll mindern, die Vorwürfe auslöschen und einen kurzen Waffenstillstand unterzeichnen. Sie und Philippe kannten nur Schweigen, Kälte und beißende Ironie, die den Graben zwischen ihnen mit jedem Tag ein wenig tiefer werden ließen. Iris wollte nicht daran denken. Sie tröstete sich mit der Vorstellung, dass sie nicht das einzige Paar waren, das auf diese Weise in eine höfliche Gleichgültigkeit abdriftete. Und nicht alle ließen sich scheiden. Es war eine üble Phase, die sie überstehen mussten, eine Phase, die sich vielleicht etwas länger hinziehen konnte, sicher, aber eine Phase, die manchmal auch allmählich in ein friedvolleres Alter überging.
Philippe ließ sich aufs Bett fallen und zog die Schuhe aus. Erst den rechten, dann den linken. Dann den rechten Strumpf und den linken Strumpf. Jeder dieser Gesten war von einem Geräusch begleitet, plopp, plopp, rsch, rsch.
»Hast du morgen viele Termine?«
»Meetings, Mittagessen mit einem Klienten, das Übliche.«
»Du solltest nicht so viel arbeiten … Die Friedhöfe sind voll von unersetzlichen Menschen.«
»Mag sein … Aber ich wüsste nicht, wie ich mein Leben ändern könnte.«
Sie hatten dieses Gespräch schon oft geführt. Wie ein Ritual, das sie absolvieren mussten, ehe sie ins Bett gehen konnten. Es endete immer gleich: mit einem Fragezeichen, das noch lange nachklang.
Jetzt geht er gleich ins Bad, putzt sich die Zähne, zieht sein langes
T-Shirt für die Nacht an, kommt ins Bett und lässt sich seufzend in die Kissen sinken. »Ich glaube, ich schlafe gleich ein …« Und sie antwortet darauf… Sie wird nichts antworten. Er wird ihre Schulter küssen, hinzufügen: »Schlaf gut, Schatz.« Dann wird er seine Schlafmaske überziehen, sie zurechtrücken und sich auf seine Seite drehen. Sie wird ihre Bürste wegräumen, die Nachttischlampe anknipsen, ein Buch nehmen und lesen, bis ihr die Augen zufallen.
Und dann wird sie eine Geschichte erfinden.
Eine Liebesgeschichte oder auch eine andere. An manchen Abenden wickelt sie sich in ihre Decken, presst das Kissen gegen ihre Brust, klopft eine Mulde in die weichen Federn und reist zu Gabor. Sie sind beim Festival von Cannes. Sie gehen am Strand entlang. Er ist allein, er hat ein Drehbuch unter dem Arm. Sie ist allein, sie wendet ihr Gesicht der Sonne zu. Sie treffen aufeinander. Sie lässt ihre Sonnenbrille fallen. Er bückt sich, um sie aufzuheben, richtet sich wieder auf und … »Iris!« – »Gabor!« Sie umarmen sich, sie küssen sich, er sagt: »Du hast mir so gefehlt! Ich habe nie aufgehört, an dich zu denken!« Sie flüstert: »Ich auch nicht!« Sie laufen durch die Straßen und Hotels von Cannes. Er ist hier, um seinen Film zu präsentieren, sie begleitet ihn überallhin, Hand in Hand gehen sie gemeinsam die Stufen hoch, sie reicht die Scheidung ein …
Manchmal ist es auch eine andere Geschichte. Sie hat ein Buch geschrieben, es ist ein großer Erfolg, sie gibt der versammelten Weltpresse in der Lobby des Grandhotels, in dem sie abgestiegen ist, Interviews. Der Roman wurde in siebenundzwanzig Sprachen übersetzt, MGM hat die Filmrechte gekauft, Tom Cruise und Sean Penn streiten sich um die männliche Hauptrolle. Die Dollars türmen sich zu kleinen grünen Haufen, soweit das Auge reicht. Die Kritiken überschlagen sich, man fotografiert ihr Arbeitszimmer, ihre Küche, zu allen möglichen Themen soll sie ihre Meinung äußern.
»Maman, kann ich bei euch schlafen?«
Philippe drehte sich mit einem Ruck um und antwortete in schneidendem Ton: »Nein, Alexandre! Wir haben diese Diskussion schon tausendmal geführt! Ein zehnjähriger Junge schläft nicht mehr bei seinen Eltern.«
»Maman … bitte sag Ja!«
Iris bemerkte ein ängstliches Flackern in den Augen ihres Sohnes. Sie beugte sich vor und nahm ihn in die Arme.
»Was ist denn los, Schatz?«
»Ich hab Angst, Maman … Ehrlich. Ich hatte einen Albtraum.«
Alexandre war näher gekommen und versuchte, unter die Decke zu schlüpfen.
»Du gehst sofort
Weitere Kostenlose Bücher