Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
Iris an den langen, tristen Tag zurück, der hinter ihr lag. Wieder ein Tag, an dem sie nichts getan hatte. Seit einiger Zeit verließ sie kaum noch das Haus. Es machte ihr keinen Spaß mehr, sich im Taumel eitler Nichtigkeiten die Zeit zu vertreiben. Sie hatte allein in der Küche gefrühstückt und dabei dem Schwatzen von Babette gelauscht, der Putzfrau, die Carmen morgens zur Hand ging. Iris beobachtete Babette, als studierte sie eine zwischen zwei Glasplättchen eingeklemmte Amöbe im Labor. Babettes Leben
war der reinste Roman: Als Kind ausgesetzt, vergewaltigt, in verschiedenen Pflegefamilien untergebracht, rebellisch, straffällig geworden, mit siebzehn Jahren verheiratet, mit achtzehn Mutter, war sie immer wieder davongelaufen, immer wieder straffällig geworden, ohne jemals ihre Tochter Marilyn im Stich zu lassen, die sie unter den Arm klemmte, mitnahm und mit all der Liebe überhäufte, die sie selbst nie bekommen hatte. Mit fünfunddreißig hatte sie beschlossen, »keine Dummheiten mehr zu machen«. Sesshaft zu werden und das Geld für die Ausbildung ihrer Tochter, die gerade ihr Abitur bestanden hatte, mit ehrlicher Arbeit zu verdienen. Sie würde Putzfrau werden. Etwas anderes konnte sie nicht. Eine hervorragende Putzfrau, die beste Putzfrau von allen. Sie nahm sich vor, »die Reichen blechen zu lassen«, und verlangte zwanzig Euro die Stunde. Iris war fasziniert von dieser kleinen blonden Frau mit den herausfordernd dreinblickenden blauen Augen und hatte sie eingestellt. Und seitdem bereitete es ihr das größte Vergnügen, ihr zuzuhören! Es waren oft merkwürdige Dialoge zwischen diesen beiden Frauen, die Welten voneinander trennten und die dort in der Küche zu Vertrauten wurden.
An diesem Morgen hatte Babette zu fest in einen Apfel gebissen, und einer ihrer Schneidezähne war darin stecken geblieben. Verblüfft hatte Iris gesehen, wie Babette den Zahn aus dem Apfel zog, ihn unter den Wasserhahn hielt, eine Tube Klebstoff aus ihrer Handtasche nahm und den Zahn wieder an Ort und Stelle festklebte.
»Passiert dir das oft?«
»Was? Ach so, mein Zahn. Kommt schon mal vor …«
»Warum gehst du denn nicht zum Zahnarzt? Irgendwann verlierst du ihn noch.«
»Wissen Sie, wie teuer so ein Zahnarzt ist? Man merkt, dass Sie im Geld schwimmen.«
Babette lebte mit Gérard zusammen, der als Lagerverwalter in einem Laden für Elektrobedarf arbeitete. Sie versorgte den Haushalt mit Glühbirnen, Mehrfachsteckern, Toaster, Wasserkocher, Fritteuse, Tiefkühlschrank, Geschirrspüler und dergleichen mehr. Alles zu unschlagbaren Preisen: vierzig Prozent Nachlass. Carmen war begeistert. Die Beziehung von Gérard und Babette glich einer Seifenoper, die Iris gierig verfolgte. Sie stritten sich unablässig, trennten sich, versöhnten
sich wieder, betrogen einander und … liebten sich. Babettes Leben müsste ich erzählen!, dachte Iris, während ihre Bürstenstriche allmählich langsamer wurden.
Als Iris an diesem Morgen in der Küche gefrühstückt hatte, war Babette gerade damit beschäftigt gewesen, den Backofen zu putzen. Ihr Oberkörper fuhr in den Ofen hinein und wieder heraus wie ein gut geölter Kolben.
»Wie schaffst du es nur, immer so fröhlich zu sein?«, hatte Iris sie gefragt.
»Ach, das ist doch nichts Besonderes! Leute wie mich gibt’s wie Sand am Meer.«
»Selbst nach allem, was du durchgemacht hast?«
»Ich hab auch nicht mehr durchgemacht als andere.«
»Das würde ich schon sagen …«
»Nein, das denken Sie bloß, weil Ihnen selbst nie was passiert ist.«
»Hast du denn keine Angst, machst du dir nie Sorgen?«
»Nie.«
»Bist du glücklich?«
Babette war aus dem Backofen hervorgekrochen und hatte Iris angestarrt, als hätte die sie gefragt, ob Gott existiere.
»Was für ’ne komische Frage! Heute Abend gehen wir auf ’nen Aperitif zu Freunden, darauf freu ich mich, aber morgen ist wieder ein neuer Tag.«
»Wie machst du das bloß?«, hatte Iris mit einem neidvollen Seufzen gefragt.
»Sind Sie denn nicht glücklich?«
Iris hatte nicht geantwortet.
»Also so was … Sie glauben gar nicht, wie glücklich ich an Ihrer Stelle wär! Kein Knausern mehr am Ende des Monats, mehr Kohle, als ich jemals ausgeben könnte, ’ne hübsche Wohnung, ’nen hübschen Mann, ’nen hübschen Sohn … Ich würd nicht mal über so was nachdenken.«
Iris hatte schwach gelächelt.
»Das Leben ist komplizierter, Babette.«
»Kann sein … Wenn Sie das sagen.«
Mit dem Kopf voraus war sie wieder
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