Die gelehrige Schuelerin
ließ, und dann ganz unauffällig weiterging.
Und dann gefror ich steif vor Angst, als ich am Tagesende eine Notiz in meinem Postfach fand:
Mr. Lester. Bitte kommen Sie so bald wie möglich in mein Büro.
Gezeichnet:
Malcolm Hargrove, Direktor.
Meine Beorderung in das Direktorenbüro konnte alle möglichen Gründe haben. Einer meiner Schüler hatte vielleicht Probleme, Mr. Hargrove wollte mit mir über den nächsten Lehrplan reden, oder es könnte auch der Fall sein, dass mein Name ihm durch den Kopf geschossen war, als er sich mal wieder verpflichtet gefühlt hatte, einen aus seiner »Personalfamilie« zu einer freundlichen Unterhaltung vorzuladen. So drückte er sich immer aus. Ab und zu gefiel es ihm, sich mit bestimmten Lehrern zu treffen und ihnen zu zeigen, was für ein netter Kerl er doch war.
Aber ich wusste, es war alles vorbei – er hatte meinen
Fantasie
zettel an Annie entdeckt, meine Nachbarn besaßen Bandaufnahmen von Boris und Natascha in Aktion, Clara hatte geredet, Mrs. Alston war Annie zu meiner Wohnung nachgegangen – und ich hatte das Bedürfnis zu kotzen.
Ich bückte mich zu einem weißen Porzellanbecken hinunter und trank einen großen Schluck Wasser. Meine Knie zitterten. Mein Gesicht war gerötet und heiß. Ich ging den Gang zum Direktorenbüro hinunter. Die Wände waren hier aus grauen Betonblöcken aufgemauert. Ich bekämpfte einen heftigen Schwindelanfall. Der lange, enge, dunkle Flur, die Stille, abgesehen von dem quietschenden Geräusch meiner Schuhsohlen auf dem Gummibelag des Fußbodens und des Alleinseins gaben mir das Gefühl, ich bewegte mich auf einem Pfad, der absolut mein Ende herbeiführte.
Der Henker ging an meiner Seite, der Priester lief, die letzten Riten lesend, eilig hinter mir her. Bekam ein Jude überhaupt einen Priester? In allen Gefängnisfilmen, die ich gesehen hatte, bekamen die zum Tode Verurteilten einen Priester, der sie zum Galgen begleitete. Warum sollte ich da eine Ausnahme machen?
Mein Klopfen war so leise, dass der Direktor es nicht hörte. Ich wartete lange, bis ich noch einmal lauter klopfte.
»Herein.« Seine Stimme war tief. Ich hörte eine Bewegung. »Oh, Mr. Lester. Ich hatte nicht erwartet, dass sie meine Nachricht vor morgen erhalten würden. Schön, dass Sie schon heute kommen konnten.« Ich ertappte ihn dabei, wie er einen Stapel Patiencekarten in seiner Schreibtischschublade versteckte.
Ich ließ mich auf einem Stuhl nieder, der wesentlich niedriger als sein eigener war.
»Ich habe es vorgezogen, heute noch vorbeizuschauen.«
»Wie bitte? Was sagten Sie?« Er lehnte sich vor. In seinem von Pickeln zernarbten Gesicht schwammen große, wasserblaue Augen. Sein Haar klebte pomadig an seinem Schädel. Er trug einen blauen Anzug, darunter ein weißes Hemd mit kleinem Kragen und einem sehr schmalen, dunkelblauen Schlips. Sein affektierter Teddy-Roosevelt-Schnurrbart hing drohend über mir.
»Oh, nichts, Mr. Hargrove. Gar nichts.«
Er erhob sich von seinem Stuhl und begann, durchs Zimmer zu schreiten, wobei er sich mit den Händen fest an seinen Rockaufschlägen festhielt. Vermutlich hatte er vor zwanzig Jahren, als er diese Stelle erhalten hatte, schon genauso ausgesehen. »Ich mag nicht gern um den heißen Brei herumreden, also …« Seine Stimme veränderte sich und klang nun so, als begänne er, eine aufgezeichnete Rede auswendig herzusagen. »Die Stellung eines Direktors ist manchmal ein schmieriges Geschäft. Verstehen Sie das?«
»Absolut«, antwortete ich, nun sicher, dass er von Annie und mir wusste. Ich hatte einen fauligen Geschmack im Mund.
»Alle Arten von Geschäften werden mir in diesem Büro angetragen, und ich muss manchmal an ein und demselben Tag die Festigkeit eines Monarchen und die Freundlichkeit eines Vaters haben. Ja manchmal sogar an nur einem Nachmittag.« Bring’s hinter dich, Hargrove. »Oft, als junger Lehrer, habe ich mich gefragt, was es wohl für ein Gefühl wäre, hinter diesem Tisch zu sitzen. So viel Verantwortung und …«
»Mr. Hargrove.« Ich konnte nicht umhin, ihn zu unterbrechen, schließlich war ich in Erwartung meines Todesschlags zu nervös, um Geduld aufzubringen. »Gibt es irgendeinen Grund, warum Sie mich sehen wollen?«
»Was? Wieso? Ah, ja, natürlich. Alles zu seiner Zeit, junger Mann. Also, wo war ich stehen geblieben?« Er murmelte die Worte übellaunig. »Ja, Tisch, Verantwortung. Und ich konnte mir nie so ganz vorstellen, wie schwer der Job des Direktors sein würde, bis, natürlich,
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