Die Gelehrten der Scheibenwelt
Meer. Der sinkende Meeresspiegel bewirkte, daß zwischen zuvor isolierten Kontinenten Landbrücken hervortraten; isolierte Ökologien begannen sich zu vermischen, als Tiere ihre Wanderungen über die neuen Verbindungswege aufnahmen. Und etwa zu dieser Zeit nahm die Evolution mancher Säugetiere eine ungewöhnliche Wendung. Eine Kehrtwende.
Sie kehrten ins Meer zurück.
Die Landtiere waren ursprünglich aus dem Meer gekommen – obwohl die Zauberer alles in ihren Kräften Stehende getan hatten, um sie daran zu hindern. Nun waren ein paar Säugetiere zu dem Schluß gekommen, sie sollten lieber dorthin zurückkehren. Die Zauberer halten solch eine Taktik für ein prinzipienloses Abtrünnigwerden – einfach aufzugeben und heimzugehen. Selbst uns erscheint es als Rückschritt, fast gegenevolutionär: Wenn es erst so ein guter Gedanke war, die Ozeane zu verlassen, wieso sollte sich die Rückkehr dann lohnen? Doch das Evolutionsspiel wird vor wechselndem Hintergrund gespielt, und die Ozeane hatten sich verändert. Insbesondere hatte sich die verfügbare Nahrung verändert. Also finden wir im mittleren Eozän die frühesten Fossilien von Walen wie den zwanzig Meter langen Basilosaurus , der ein Paar winzige Beine am Ansatz seines langen Schwanzes hatte. Wir haben Fossilien seiner Vorfahren gefunden, und die sahen wirklich wie kleine Hunde aus.
Das Mittelmeer wurde von einem Damm versperrt, Afrika kam in Kontakt mit Europa, und Lebewesen, die zuvor auf Afrika beschränkt gewesen waren, gelangten nach Europa, darunter Elefanten – und Affen. Die Pferde entwickelten sich, ebenso die echten Katzen (wie der berühmte Säbelzahntiger). Vor fünf Millionen Jahren waren die meisten heutigen Säugetiere in erkennbaren Formen vertreten, und das Klima war dem heutigen ähnlich geworden.
Die Szene war für den Auftritt des Menschen vorbereitet.
Obwohl wahrhaftig nicht alles von vornherein darauf abzielte , zu uns zu führen, wohlgemerkt. Unsere frühen Vorfahren fanden sich einfach in der Lage, aus der Welt, wie sie damals war, ihren Nutzen zu ziehen. Und das taten sie.
Wir können den Stammbaum der modernen Säugetiere – im Grunde aller Lebewesen, die heute noch existieren – verfolgen, indem wir die Veränderungen in ihrer DNS aufzeichnen. Die Rate, mit der DNS mutiert – mit der zufällige Fehler in ihrem Code auftreten –, führt zu einer ›DNS-Uhr‹, die zur Bestimmung der Zeitpunkte zurückliegender Ereignisse benutzt werden kann. Als diese Technik gerade entdeckt worden war, wurde sie allgemein als exakte und daher unstrittige Methode begrüßt, schwierige Fragen zu lösen, welche Vorfahren eines Tiers in engerer Beziehung zu welchen anderen standen. Heute wird allmählich deutlich, daß Präzision allein keine endgültigen Antworten auf solche Fragen liefern kann.
Die Frage der Interpretation – was bedeutet dieses Ergebnis? – kann immer noch strittig sein, selbst wenn das Ergebnis selbst genau sein kann. Beispielsweise haben S. Blair Hedges und Sudhir Kumar die DNS-Uhr auf 658 Gene von 207 heutigen Wirbeltierarten angewandt: Nashörner, Elefanten, Kaninchen und so weiter. Ihre Ergebnisse laufen darauf hinaus, daß viele von diesen Entwicklungslinien schon vor mindestens hundert Millionen Jahren vorhanden waren und mit den Dinosauriern koexistierten, wenngleich die Frühformen von Elefant und Nashorn zweifellos ziemlich klein waren. Die Fossilbelege bestätigen, daß es damals Säugetiere gab – aber nicht diese. Die Molekularbiologen behaupten, die Fossilbelege müßten trügerisch sein; die Paläontologen sind überzeugt, daß die DNS-Uhr manchmal schneller und manchmal langsamer tickt. Der Streit dauert an – doch wenn man uns fragt: Wir setzen auf die Paläontologen.
Eine große Überraschung an der Säugetier-DNS ist ihre Menge. Man sollte meinen, daß ein kompliziertes Wesen wie ein Säugetier ›schwer zu bauen‹ sei und daher mehr DNS erfordere, wie ja die Konstruktionszeichnungen für ein Düsenflugzeug komplizierter sein müssen als für einen Drachen.
Dem ist nicht so.
Säugetiere haben weniger DNS – kürzere Genome – als viele scheinbar einfachere Tiere, zum Beispiel Frösche und Molche.
Dieses scheinbare Paradoxon hat gute Gründe, und es illustriert den Unterschied zwischen DNS und einer Konstruktionszeichnung. Die DNS ist eher ein Kochrezept – und ein Kochrezept setzt eine Menge davon voraus, was man sonst noch in seiner Küche hat, so daß nichts davon im Kochbuch eigens
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