Die Geliebte des Gelatiere
dieser Schinken zu werden, mit denen ich mich ständig herumschlug.
Meine zweite Aufgabe war, im Lesesaal Aufsicht zu haben, mit Argusaugen alles zu beobachten und jede Störung zu unterbinden. Ich versuchte, so pedantisch zu sein, wie man es von mir verlangte, sorgte bei Unruhe für Stille und kontrollierte jedes verdächtige Mäppchen, das den Lesesaal verließ. Dabei kam ich mir wie ein Gefängniswärter vor, ein Türhüter, ein Carabiniere des Staubs – etwas, was ich nie hatte sein wollen.
Kurz und gut, der Tag brachte wenig Erfrischendes, und am Abend war ich erschöpft. Ich ging kaum mehr aus. Meist wollte ich einfach nur noch meine Ruhe. Abends hatte ich nicht einmal mehr die Kraft, zu lesen oder Musik zu hören. Ich lag herum, starrte an die Decke oder auf den Canale della
Giudecca. Manchmal saß ich stundenlang auf einem Poller an den Zattere und stierte apathisch auf das Wasser. Ich wurde immer verschlossener, zog mich völlig in mich zurück. Ich wusste, dass ich im Archiv am falschen Ort war, hatte aber das Gefühl, dass ich durchhalten müsste. Schließlich war es meine erste feste Stelle, mein erster Vollzeitjob. Und so riss ich mich zusammen, auch wenn die Arbeit mich deprimierte und ich auf dem besten Weg war, ein seltsamer Kauz zu werden.
Ein Jahr nachdem ich die Stelle im Archiv angetreten hatte, erschien ein jüngerer Mann in meinem Büro. Er war groß, hatte dunkle Haare, wirkte gepflegt und aufgeräumt. Seine Koteletten erinnerten an alten englischen Adel. Er trug ein weißes Hemd, eine schwarze Jacke und frisch polierte Schuhe. Er sei Enzo Ranzato, sagte er, Historiker, und schreibe an einem Buch über die Geschichte des Gelato.
Ich starrte ihn an. Wie oft hatte ich in den letzten Monaten wehmütig an meinen Job bei Pippo gedacht, wie oft hatte ich mir vorgestellt, wieder in der Gelateria zu arbeiten – unter ganz gewöhnlichen Menschen den Duft von Vanille und Limone einzuatmen anstelle der muffigen Archivluft. Aber ich hatte nichts unternommen, um wieder zurückzukehren. Ich war überzeugt, dass man das Rad der Zeit nicht zurückdrehen konnte. Dass man etwas, was man hinter sich gelassen hatte, nicht einfach wieder aufnehmen konnte.
»Glauben Sie, dass Sie etwas zur Geschichte des Gelato haben?«, fragte mich Enzo. »Dottoressa Falier hat mich eigens zu Ihnen geschickt. Sie sagte, Sie hätten in einer Gelateria gearbeitet und wüssten auf diesem Gebiet bestens Bescheid.«
»Dass wir etwas dazu haben, darüber besteht kein Zweifel«, sagte ich. »Das Schwierige ist nur, die entsprechenden Titel zu finden.«
Er nickte und schaute mich erwartungsvoll an.
Ich erinnerte mich, dass wir in der Bibliothek ein Buch über Eisbomben hatten sowie verschiedene alte Kochbücher mit Rezepten für geeisten Pudding und Milcheis, die ich mir in Stunden der Langeweile angeschaut hatte.
»Interessieren Sie sich auch für Eisbomben?«, fragte ich.
»Unbedingt.«
»Wir haben ein schönes Buch dazu.«
Enzos Anliegen traf mich an einem wunden Punkt, deshalb ging ich selber in die Bibliothek, ermittelte am Zettelkasten die Signaturen und kam mit vier Bänden zurück.
Ich reichte ihm das stockfleckige Werk über Eisbomben, das 1907 mit vielen kunstvoll kolorierten Zeichnungen in einem Verlag für Konditoreibücher erschienen war.
»Fantastisch!«, rief Enzo aus, als er in den vergilbten Seiten blätterte. Er wies auf eine Abbildung einer schokoladenbraunen Othello-Bombe. Daneben fanden sich die Halbkugeln einer Ananas-Bombe und eines Schneemanns aus Eis, die Kegel von mit Palmen versehenen Kongo-Bomben, ein Orangenkorb, eine Bombe als Turban, als Windmühle, als Schachbrett, die Bombe »Isabella«, die Bombe »Luisa« und sogar eine Bombe »San Marco«.
»Sie kennen die Geschichte der Eisbombe?«, fragte ich Enzo.
Er nickte. »Tortoni, der Besitzer des Café Royal in Paris, soll sie im 17. Jahrhundert erfunden haben. Er wollte damit dem Café Procope die Kunden abjagen. Das Procope gehörte dem Sizilianer Procopio de Coltelli. Tortoni hat ihn mit Eisbomben bekämpft.«
Ich staunte nicht schlecht. Offensichtlich kannte sich Enzo aus. Er überflog einen Abschnitt des Buches.
»Das wird mich weiterbringen«, sagte er. »Haben Sie noch weitere Raritäten zum Gelato?«
Ich legte ihm Antonio Latinis 1694 erschienenes Werk Lo Scalco alla Moderna vor, in dem der Autor neapolitanische Sorbet-Rezepte beschreibt, wie gefrorenes Erdbeerwasser mit eisgekühltem Doppelrahm, das mit Zucker bestreut
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