Die Geliebte des Gelatiere
Ganzen, dies sei ein wichtiger Moment in meinem Leben.
»Nur du kannst wissen, was es ist«, sagte sie, »aber ich glaube, du stehst an einer Art Scheideweg.«
Das klang nicht schlecht, auch wenn mir nicht klar war, was für ein Scheideweg das sein und was ich daraus lernen sollte. Dass Takt, Maß und Fairness Dinge von gestern waren? Dass man jederzeit bejubelt, aber auch abgeschossen werden konnte? Dass man mit Behauptungen und Geplapper eine Existenz zu zerstören vermochte?
Letztlich schadeten die Berichte weniger meiner Gelateria – ich hatte noch mehr Zulauf als sonst, ja, ich hätte eine zweite aufmachen können – als vielmehr mir selbst. Ich ging nicht mehr so frisch und unbekümmert ans Werk, ich machte mir Gedanken, wo ich sonst der Intuition freien Lauf gelassen hatte, ich krallte mich an Technik und Handwerk, statt meinem Instinkt zu vertrauen. Ich hatte keine Lust mehr, alles zu geben, wenn ich dafür zur Schnecke gemacht wurde. Hatte ich mein Herzblut in dieses Honig-Safran-Eis gelegt, um mich auf diese Weise angeifern zu lassen? Auf einen Schlag verloren meine Kreationen an Raffinesse. Dass jedermann irgendeinen Mist über mich in die Welt setzen konnte, hatte mich so tief getroffen, dass ich diesen Mist nun selber baute. Dabei hätte ich mit geschwellter Brust die Zattere auf- und abpromenieren können.
Im einen Augenblick war ich niedergeschlagen und zu Tode betrübt, im nächsten ritt ich auf einer Welle von Glück. Mit Paolina erlebte ich auf den Ausfahrten nach Torcello oder San Francesco del Deserto schöne Momente, wir küssten uns auf dem Boot, auf Attilas Thron und unter den Zypressen, wo Franz von Assisi mit den Vögeln gesprochen hatte, hörte ich aber in der Gelateria von einem neuen Artikel über »mein« Zimtparfait, packte mich wieder der Zorn. Ich musste lernen, dass Öffentlichkeit etwas Zweischneidiges, Zwiespältiges war. Ich musste begreifen, dass manche Medien dieselben Floskeln stereotyp wiederholten und selbst diese noch verdrehten. Es war konsternierend, wenn Leute, die noch nie ein Eis von mir gegessen hatten, über mich urteilten, als ob sie schon lange an die Zattere kämen und es schon immer gewusst hätten. Es war ernüchternd, wenn selbst ernannte Gourmetpäpste, die eine Ahnung von Calamari und Aragosti, nicht aber von Gelati hatten, so taten, als seien sie die ultimativen Eis-Kenner.
Paolina machte sich Sorgen, weil ich seit dem Erscheinen dieser Berichte in der Nacht mit den Zähnen knirschte und oft missmutig und verdrossen war.
»Du bist nicht mehr du«, sagte sie eines Abends unvermittelt, als ich mit traurigem Gesicht eine Caramelita zu einem Turm drapierte. »Du könntest ja auch an den Oscar denken anstatt an diese Verrisse.«
Sie schaute mich auf eine Weise an, dass ich wusste, dass ich mich zusammenreißen musste. Aber ich war ein schlechter Schauspieler. Das Einzige, was mich tröstete, war, dass die Artikel nach und nach verebbten – es gab zum Glück Wichtigeres als einen Eis-Oscar und Portweinbirnen aus Sansepolcro. Nach einer Weile hatten die Leute die Verrisse vergessen. Kaum jemand sprach mich noch darauf an. Und wenn, dann hieß es, die Zeitungen seien auch nicht mehr wie früher.
»Ich liebe dieses Eis«, sagte etwa eine Marktfrau vom Rialto, »herrlich, das beste Eis von Venedig, das beste Eis.«
So kam es, dass ich bei dem großen Fest, das Michele zu meinem zweiunddreißigsten Geburtstag mit zweiunddreißig Gästen in einem Saal des Hotel Bauer ausrichtete, mit der Welt wieder einigermaßen versöhnt war. Es war ein rauschendes Fest – als Aperitif wurde Sangria serviert, worauf ein mehrgängiges Menü folgte. Die Vorspeise war eine feine Hummersuppe, der primo piatto eine kunstvolle Komposition aus Pilzen und Peperoni und der secondo piatto ein Arrosto di vitello, ein knuspriger Kalbsbraten mit frischem Gemüse von Sant’Erasmo. Zum Dessert gab es eine Eistorte, die in Form einer verführerischen Venus modelliert war. Zweiunddreißig »Aaahs« und »Ooohs« begleiteten das Auffahren der kolossalen Torte, die so schön war, dass man sie gar nicht in Stücke schneiden wollte. Und doch hätte man diesen üppigen Eiskörper am liebsten gleich verschlingen wollen, gleich lecken an den von rotbraunen Eishaaren umflossenen Rundungen. Aber niemand wagte den ersten Schritt, und auch die Kellner zögerten und schienen zu zweifeln, ob sie diese Göttin, diese Lustbombe, dieses makellose Meisterwerk des Gelato artigianale wirklich anschneiden
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