Die Geliebte des Gelatiere
keinen Bock auf die immer selben Sorten. Natürlich ist es klug, Klassiker wie Vanille und Erdbeer im Angebot zu haben, aber geschmacklich Neues auszuprobieren macht mehr Spaß.«
Ich löffelte an meinem Haselnusseis und schaute mich um. Die Gelateria war gut besucht, und Antonio, der Student hinter den Eiskästen, hatte alle Hände voll zu tun. Er war so beschäftigt, dass ich seine Kollegin aus der Pause zurückbeordern musste.
»Vorher arbeitete ich im Staatsarchiv«, fuhr ich fort. »Ich war ein Sklave der Träume anderer – ihrer Träume von der Rückkehr zum Ursprung, ihrer Suche nach der verlorenen Zeit. Ich war begraben unter Geboten. Ich konnte nicht mal aufs Klo, ohne dass da Fenster bitte nicht öffnen stand. Es ist kein Zufall, dass griechisch »arché« nicht nur »Anfang«, sondern auch »Gebot« bedeutet. Nach und nach verlor ich den Glauben daran, dass es etwas gab, was das Aufrühren all dieses alten Staubs rechtfertigte. Manchmal war ein richtiger Hass auf das Archiv in mir. Die Arbeit war so stumpfsinnig, dass ich am liebsten alles ausgelöscht und vergessen hätte. Hier ist es ganz anders. Ich lebe meine Träume, und die Gebote stelle ich selbst auf. Es gibt nichts Vergänglicheres als das Gelato, man kann es nicht aufbewahren, aufheben, man muss es gleich essen, sonst zerläuft es und ist kein Eis mehr. Es erträgt keinen Aufschub und zwingt mich, ganz im Jetzt zu leben.«
Ich machte eine Pause und sah zu, wie Antonio ein Gianduiotto über die Theke reichte.
»Ist das nicht wahnsinnig schwierig, immer ganz im Jetzt zu sein?«
»Klar«, sagte ich, »aber nicht immer gleich.«
Gerade war es gar nicht schwierig, auch wenn mich ihre Blicke einen Moment lang aus dem Konzept brachten.
»Das Paradoxe ist, dass Eis immer auch an früher erinnert, an die Zeit, in der man ein Kind war und die bunt eingepackte Rakete auf der Kiosktafel alles Glück auf Erden versprach. In gewisser Weise ist auch das Gelato ein Archiv – eines, das die Erinnerung weckt, indem es sich auflöst.«
Ich blickte auf den leeren Eisbecher und den Löffel, der darin lag. Ich blickte auf das lange, leicht gewellte Haar Paolinas. Und ich blickte in ihre strahlenden grünen Augen.
»Und du?«, fragte ich schließlich. »Was machst du?«
»Nichts Aufregendes. Ich bin Beraterin bei der Carive, der Cassa di Risparmio di Venezia. Ich betreue dort die Kunden mit einem dicken Portefeuille.«
»Wenn man sich leicht aufregt, braucht man ja nicht noch einen aufregenden Job.«
Sie lachte und fuhr mit dem Finger um den Rand des Eisbechers.
»Das Bankfach ist etwas Praktisches, Handfestes. Das gefällt mir. Es ist nichts Abgehobenes, sondern bodennah. Natürlich sind die Kunden mit einem dicken Portefeuille nicht immer die einfachsten. Aber ich habe gelernt, mit ihnen umzugehen.«
»Und wie geht man mit denen um?«
»Man kitzelt ihren Geldriecher, gefriert ihren Verstand und sahnt dann ab.«
Wenn sie ihre widerspenstige Art ablegte, war sie umwerfend. Die Weise, wie sie schaute, wie sie Rauchkringel in die Luft blies, wie sie mich auf den Arm nahm, fesselte mich. Nach und nach schien mir, als hätte ich sie schon mein ganzes Leben lang gekannt. Es war eine Vertrautheit zwischen uns, ohne dass wir viel sprechen mussten. Für Momente meinte ich Noemi gegenüberzusitzen. Ich vergaß die Irritationen des Anfangs, vergaß, dass in den ersten paar Worten schon alles angelegt war, was folgte. Ich hatte nur noch ihr Strahlen vor Augen, ihre Schlagfertigkeit, ihren Humor.
Trotz allem gab sich Paolina reserviert, als sie sich verabschiedete. Nicht das leiseste Signal, dass sie bereit war, sich auf etwas einzulassen. Ich fragte mich, ob sie mit Menschen rasch Nähe herstellen konnte, sich dann aber gleich wieder entzog. Oder ob es vielleicht doch einen Freund gab – darüber hatten wir nicht gesprochen.
Nachdem ich sie zum Vaporetto gebracht hatte, ging ich in die Gelateria zurück und setzte mich an den Platz, an dem wir gesessen hatten. Ihr Eisbecher war abgeräumt, doch ein Gemisch von Zigarettenrauch und einem Hauch ihres Parfums hing noch im Raum. Ich schloss die Augen, sog diesen Geruch ein und versuchte, etwas herauszuriechen. Aber alles blieb in der Schwebe.
11
Ohne mich zu fragen, nominierte mich Pippo für die »Coppa d’Oro« in Longarone, eine Art Oscar-Verleihung für Gelatieri. Mich hinter meinem Rücken bei diesem Wettbewerb anzumelden, wo man vor einer Jury ein Eis zubereiten musste, pass-
te mir gar nicht in den Kram.
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