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Die Geliebte des Gelatiere

Die Geliebte des Gelatiere

Titel: Die Geliebte des Gelatiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Zahno
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Rettungsboot gestoßen wird, wie oft hatte ich solche Szenen erlebt, wenn Touristen vor einer Kirche zusammensackten, ein Herzinfarkt, ein Schlaganfall, eine Schwäche, und immer waren die Sanitäter mit ihrer Schubkarre zur Stelle, um die Opfer durch die engen Gassen so rasch wie möglich zum Rettungsboot zu stoßen, begleitet von erschrockenen, staunenden, spöttischen Gesichtern. Diese Karre war mittelalterlich, lächerlich, grotesk, sie gierte und ächzte, ein Relikt aus fernen Zeiten, und doch noch immer unersetzlich.
    Paolina warf schnell das Nötigste in eine Tasche, Pyjama, Unterwäsche, dazu Zahnbürste, Kamm, Seife, eine Rolle Klopapier für den Notfall, da läutete es auch schon, fünf, sechs Sanitäter in knallorangen Leuchtwesten und hohen schwarzen Stiefeln standen vor der Tür und warteten, bis ich einen Mantel und eine Mütze übergezogen hatte, um mich mit kräftigen Armen das Treppenhaus hinunterzutragen und in die Schubkarre zu hieven. Eine Nachbarin rief mir etwas zu, aber ich war zu benommen, um zu antworten, meine Füße baumelten über den Rand der Karre, zu beiden Seiten des Vehikels stark behaarte Hände. Eilig wurde ich über das holprige Pflaster des Campo Sant’Agnese geschoben, wo die Nachbarskinder für einmal nicht Fußball spielten. Einen Moment lang fand ich es aufregend, nie hatte ich Venedig aus dieser Perspektive gesehen, von unten, aus dieser Karre, ich war der König in der Karre, den Himmel vor Augen, das Licht, die schnell fahrenden Wolken, aber ich schämte mich, es schmerzte mich, es war mir peinlich, und ich hoffte, dass niemand mich sah.
    Paolina ging neben mir her, sie war besorgt, mit ernster Miene fragte sie mich, wie es mir ging, ich versuchte zu lächeln, aber es gelang mir nicht. Ich schloss die Augen, öffnete sie wieder, sah nur Dachgiebel, den Himmel, die schnell fahrenden Wolken, alles schien unwirklich, verschwamm, war das alles nicht bloß ein böser Traum, aus dem man jederzeit aufwachen konnte, ein Fingerschnippen, und alles war wieder gut? Aber nichts war gut, nichts, es krampfte und zuckte in mir, ich lag mit einer Kolik in der Karre.
    Der Weg zum Boot war endlos lang, an einer verrosteten Badewanne vorbei, unter einer Wäscheleine mit flatternden So-
cken und großen Büstenhaltern hindurch. Eine schwarze Katze rannte vor die Schubkarre. Die Sanitäter fluchten und bekreuzigten sich. Ich schaute weg. Die Gasse zum Rio di San Vio war zum Glück menschenleer. Wir erreichten den Steg, starke Arme hievten mich in das Boot, setzten mich auf den Schragen in die halb offene Kabine, und schon ging es mit Blaulicht und Martinshorn hinaus auf den Canale della
Giudecca, Richtung Ospedale, während mir die Notärztin Fragen nach der Art des Durchfalls stellte, nach der Höhe des Fiebers und den Medikamenten, die ich genommen hatte. Aber ich war so benebelt, dass Paolina die Fragen für mich beantwortete, ich nickte nur oder schüttelte den Kopf.
    Wir fuhren an der Gesuati-Kirche vorbei, die unverdrossen läutete, und dann an meiner Gelateria, mein Gott, ich stellte mir Antonio vor, wie er gerade ein Eis über die Theke reichte, es gab mir einen Stich ins Herz, wie ein Halbtoter an meiner Gelateria vorbeifahren zu müssen, Tränen schossen mir in die Augen wie bei einem schlimmen Abschied. Ich fragte mich, ob alles gut ging ohne mich, ob es klappte mit den Lieferanten, den Rezepturen, den Gelati, ich malte mir ein Chaos aus, Beschwerden, den Konkurs, aber ein Krampf löschte diese Bilder auf der Stelle aus.
    Als die Schmerzen nachließen, schaute ich hoch: ein strahlender Tag, die Wolken weggeblasen, der Himmel blau, die Luft klar. Der kalte Fahrtwind ließ mich plötzlich frösteln, ich fror, es schüttelte mich, und man hüllte mich in Decken. Wieder bekam ich einen Krampf, dazu Angst, dass ich es nicht bis zum Spital schaffte, dass ich diesen Schragen, diese Decken, diese Hose vollschiss. Da machte unser Boot einen plötzlichen Satz nach links, einen Schwenker, Hüpfer, ich hörte ein Fluchen, Paolina schrie auf, die Notärztin schimpfte, es spritzte und klatschte, ein Zetern und Wettern, »Vaffanculo! Vaffanculo!«, dann war alles wieder ruhig. Ein Wassertaxi hatte uns beinahe gerammt, unser Fahrer hatte ausweichen und das Boot herumreißen müssen.
    Als wir bei der Stazione Marittima anlangten, bogen wir in den Canale Scomenzera ein, vorbei an Santa Marta, an ausrangierten Booten, deren Farbe abblätterte und die übereinandergestapelt auf dem Hafendamm lagen,

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