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Die Geliebte des Gelatiere

Die Geliebte des Gelatiere

Titel: Die Geliebte des Gelatiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Zahno
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ich nicht sofort ins Bad konnte, würde ich platzen.
    »Leck mich am Arsch!«, rief ich. »Wenn du das andere Papier nehmen willst, dann nimm es. Ich benutze dieses!«
    Tonio fuchtelte mit den Fäusten, griff nach meiner Rolle und wollte sie mir entreißen. Aber ich wand mich los, schob ihn beiseite und rannte, während er »No! No! No!« schrie, aufs Klo. Dort knallte ich die Tür zu und schloss ab. Keine Sekunde länger hätte ich es ausgehalten.
    Nachdem ich mich gesäubert hatte, musste ich mich sammeln. Was, wenn Tonio mit seinen Fäusten auf mich losging, wenn ich wieder ins Zimmer trat? Wenn er die Nachtschwester rief und sich über die Keime des eingeschmuggelten Papiers beschwerte? Wir werden uns gut verstehen, es ist wichtig, dass zwei Zimmergenossen immer zusammenhalten.
    Mit grimmiger Miene machte ich die Tür auf. Tonio passte mich nicht ab, sondern hatte sich wieder ins Bett gelegt. Ich schleppte mich in meines und löschte das Licht. Mit dem Stöhnen und Röcheln war es vorbei, dafür erfüllte nun ein Schweigen den Raum, das kaum auszuhalten war. Ich ahnte, dass Tonio hellwach auf der anderen Seite lag und mir am liebsten an die Gurgel gesprungen wäre. Zum ersten Mal war es wirklich ruhig in unserem Zimmer. Aber unter der Oberfläche brodelte es, und ich rechnete jeden Moment damit, dass Tonio wutentbrannt aus seinem Bett schnellte und zu mir herüberkam, um mir die Leviten zu lesen. Doch er rührte sich nicht. Es blieb still, bis auf das Klappern der Holzsandalen des Pflegers, das vom Gang hereindrang. Aus dem Zimmer des Ärzteteams kam ein leises Fluchen, unverständliche Satzfetzen flogen durch die Luft, Stimmen, die in Wellen von Streit und Gelächter auf- und abwogten und für kurze Zeit die Stille durchbrachen. Dann war es wieder mucksmäuschenstill. Die Stille drückte schwer auf das Zimmer und den Bauch. Schließlich hielt ich es nicht mehr länger aus und fragte: »Alles in Ordnung?«
    Aber Tonio antwortete nicht. Er, der sonst nie genug schwatzen konnte, schmollte. Na gut, dachte ich, dann habe ich wenigstens meine Ruhe. Ich legte mich auf die Seite und versuchte zu schlafen, aber war es zuvor die Unruhe gewesen, die mich nicht einschlafen ließ, war es jetzt die Stille. Es war so still, dass ich das Pfeifen in meinen Ohren hörte und mich nun selbst um den Schlaf brachte. Nach einer Weile kam wieder das Schnarchen von der anderen Seite, und ich hatte mich schon mit einer schlaflosen Nacht abgefunden, als ich gegen Morgen doch noch einnickte. Ich träumte von einer Familie mit einem Riesenpudel, ich kannte sie nicht, die drei Kinder, die Eltern und den Hund, aber sie schauten alle sehr glücklich aus, noch im Traum fragte ich mich, warum ich von ihnen träumte, als mich ein Brüllen jäh aus dem Schlaf riss. Erschrocken schaute ich auf den Wecker. Es war sechs. Tonio war schon hellwach und schrie im Ton von Colonello Morosini die Lotto-Zahlen in den Hörer, die seine Frau anzukreuzen hatte: »Drei! Fechf! Elf! Achtfehn! Achtundfwanfig! Fechfunddreiffig! Nein, nicht fiebenunddreiffig, Herrgott, fechfunddreiffig! Nein, nein, nicht fiebenunddreiffig, daf bringt Unglück! Du weifft, daff ef Unglück bringt! Fechfunddreiffig, verdammt noch mal!«
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    Dann begann es mit den Halluzinationen und der Klarsicht. Ich war plötzlich unheimlich ruhig und hellsichtig zugleich. Kaum schloss ich die Augen, hatte ich Bilder auf der Netzhaut, prächtige, leuchtende Farben, die ineinander verschwammen und immer neue Wirbel und Formen bildeten. Starrte ich auf die Maserung der Wand, sah ich darin deutlich das bärtige Gesicht van Goghs. Verlor sich mein Blick auf dem Boden des Badezimmers, entdeckte ich in den Flecken des Kunststoffs eine Familie mit einem Hund. Ein Friede durchströmte mich, dass ich plötzlich mit allem einverstanden war, für alles Verständnis hatte, selbst für meinen Zustand. Auch gegen den Tod hätte ich jetzt nicht rebelliert. Ich weiß nicht, lag es daran, dass ich seit Tagen nichts mehr gegessen und getrunken hatte, lag es an der Schlaflosigkeit oder den Lösungen, die mir injiziert wurden? Auf jeden Fall fühlte ich mich high, trotz aller Schmerzen auf seltsame Weise glücklich.
    Als der zweite Chefarzt eintrat, fragte ich ihn nach den Resultaten der Stuhlprobe.
    »Die sind leider noch nicht eingetroffen«, sagte er. »Morgen wissen wir mehr.«
    Einen Augenblick lang dachte ich, dass man meine Probe verlegt, den Stuhl verschlampt hatte, aber ich schwebte auf eine Weise über allem,

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