Die Geliebte des Gelatiere
dass es mir nichts ausmachte, und verscheuchte den Gedanken gleich wieder.
Der Pfleger mit den Holzsandalen machte sich an meinem Arm zu schaffen und scherzte, er stecke sich jetzt an, dann spare er jede Menge Essen. Aber dieser Zynismus konnte mir nichts anhaben. Selbst als meine Eltern kamen und sich mein Vater als Erstes über die Fussel auf meinem Pyjama ärgerte, die von dem um den Hals geschlungenen Schal stammten, und dann nicht aufhören wollte, von den Vorteilen der neuen Bootsanlegestelle zu schwärmen, regte ich mich nicht auf. Ich blieb auch gelassen, als meine Mutter nicht verstehen wollte, dass ich den von ihr in einer Thermosflasche mitgebrachten Fencheltee nicht trinken konnte.
Erst als meine Eltern gegangen waren und Tonio den Fernseher in voller Lautstärke aufdrehte, fiel ich aus meinem inneren Gebettetsein. Der Krach riss mich aus meiner Sanftmut und ging mir gehörig auf die Nerven. Am Morgen hatte ich Ruhe gehabt, weil man Tonio zu Untersuchungen in einen anderen Trakt geführt hatte, jetzt aber war er wieder da und machte sich breit mit seiner Unempfindlichkeit. Den nächtlichen Zweikampf erwähnte er mit keinem Wort, ja, er schien gar meine verseuchte Rolle zu benutzen.
Endlich tauchte Paolina auf. Sie sah kreideweiß aus, übernächtigt, aufgerieben, und ich fragte mich, ob der Arzt ihr Informationen gegeben hatte, die er mir vorenthielt. Sie küsste mich nicht auf die Stirn, sondern tätschelte mir nur flüchtig die Hand und den Bauch, der immer noch unablässig gurgelte, was mir peinlich war, aber ich konnte es nicht unterbinden.
»Sorry«, sagte ich, »dieses Gegurgel, es fühlt sich an wie einbetonierte Fürze – sie kommen nicht wirklich raus.«
»Schon gut«, sagte Paolina und blickte auf die durchsichtige Flasche, die am Infusionsständer hing. Dann reichte sie mir eine Tasche mit Unterwäsche, Frischetüchlein, Feuchtigkeitscreme, Shampoo und einem Badeschwamm.
»Du bist ein Schatz«, sagte ich, »wenn ich dich nicht hätte!«
Kaum hatte ich das gesagt, brach sie in Tränen aus. Sie kullerten ihr nur so über die Wangen, ich drückte ihre Hand und versuchte, sie zu beruhigen, schlang meinen rechten Arm, so gut es ging, um ihren Kopf. Sie hatte einen Weinkrampf, schluchzte und zitterte und schien völlig aufgelöst, während ich nicht wusste, was los war. Hatte der Arzt ihr etwas Schlimmes eröffnet? Ich streichelte ihr Haar, fuhr ihr mit der Hand über den Nacken, aber die Tränen liefen ihr immer neu über die Wangen, mir über den Hals und die Brust. Nach und nach aber beruhigte sie sich und atmete wieder entspannter. Ich reichte ihr ein Taschentuch, und sie wischte sich die Tränen aus ihrem salzigen Gesicht. Dann streckte ich meine Hand nach ihrer aus und drückte sie fest.
»Was ist denn los?«
Sie schaute mich an und schwieg. Einen Augenblick lang sah es so aus, als ob alles wieder von vorne begänne, als ob ihr wieder Tränen in die Augen träten, aber schließlich holte sie tief Luft und fasste sich. So aufgewühlt hatte ich Paolina noch nie gesehen.
Tonio hatte den Fernseher leiser gestellt, um zu verfolgen, was auf unserer Seite passierte, er wollte mithören, was da vor sich ging. Ich hoffte, dass er sich nicht einmischte, und vermied jeden Blickkontakt. Eine Litanei über Padre Pio oder Ratschläge über den Umgang mit Frauen hätten mir jetzt den Rest gegeben.
»Sag schon, was los ist.«
Paolina schaute mich mit ihren verweinten Augen an.
»Dein Tagebuch«, sagte sie schluchzend und schüttelte immer wieder den Kopf.
»Mein Tagebuch?«
Ich war überrumpelt. Ich hatte mit einer üblen Nachricht zu meinem Zustand gerechnet.
»Was ist mit meinem Tagebuch?«, fragte ich verdutzt.
»Es lag offen auf dem Tisch, ich konnte gar nicht anders, als einen Blick reinzuwerfen.«
Ich hatte keine Ahnung, was ich zuletzt notiert hatte, mich beschäftigten gerade andere Probleme.
»Ich begreife gar nichts«, sagte ich.
»Jetzt tu nicht so!«, schimpfte Paolina.
»Ich weiß ehrlich nicht, wovon du redest.«
»Ich rede von den Stukkateurinnen.«
»Von den Stukkateurinnen?«
»Ja.«
»Was ist denn mit den Stukkateurinnen?«
»Ja, das frage ich mich auch, was mit den Stukkateurinnen ist. Warum du sie seitenlang beschreibst in deinem Tagebuch, sie in immer neuen Sätzen umschwärmst und umschwänzelst, als wärst du siebzehn.«
Ich war platt. Es stimmte, ich hatte einige Notizen gemacht zu den hübschen Stukkateurinnen, die in der Nähe einen Palazzo restaurierten
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