Die Geliebte des Gelatiere
anderes Zimmer gerufen. Ich regte mich fürchterlich auf. Ich war mir sicher, dass ich die doppelte Dosis Ciprofloxicin schon bekommen hatte. Die vierfache Dosis versetzte mich in Panik. Schweiß trat mir auf die Stirn, mein Herz raste, und die Schläuche vor meinen Augen verschwammen. Es durfte nicht sein, dass ich wegen eines Pflegefehlers vor die Hunde ging. Ich läutete.
Ein anderer Pfleger kam, und ich schilderte ihm mein Problem. Er konsultierte den Pflegeplan und kam kopfschüttelnd zurück.
»Alles in Ordnung«, sagte er. »Mach dir keine Sorgen. Du bist nur ein bisschen durcheinander, weil du seit Tagen nichts mehr gegessen hast.«
Ich gab auf. Ich war in eine Höllenmaschine geraten, und bei jedem Versuch, mich aus ihr zu befreien, schien ich nur noch umso mehr in sie hineinzugeraten.
»Lass dich nicht unterkriegen, Alvise. Du musst Haltung zeigen, Haltung ist das Wichtigste. Der Rest kommt von alleine.«
Tonio war aufgestanden und an mein Bett getreten. Ich war so fertig, ich hätte auf der Stelle losheulen können. Aber ich zeigte es nicht.
»Genau so. So ist’s richtig, Alvise.«
Dann dämmerte ich weg.
Als ich aufwachte, standen Schwester Marta und der Pfleger mit den Holzsandalen am Bett. Sie fluchte und riss aufgebracht die leere Antibiotika-Flasche aus der Halterung.
»Sorry, Bellissimo, ein Missverständnis. Ich hoffe, es ist alles okay mit dir?«
Ich schaute sie belämmert an und nickte. Lieber lügen als Schwester Marta gegen sich aufbringen – dafür war sie zu schön und zu rabiat.
»Wir nehmen gleich dein Blut, Bellissimo. Falls es Probleme gibt, kommst du auf die Intensivstation. Aber mach dir keine Sorgen. Es wird schon gut.«
Die Werte waren katastrophal, aber nicht so katastrophal, dass man mich hätte verlegen müssen. Das Kreatinin war ums Vierfache erhöht.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte ich den Secondario voller Sorge. Ich hatte noch nie etwas von Kreatinin gehört.
»Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus ist das höchst bemerkenswert. Wir müssen Ihre Werte unbedingt im Auge behalten. Morgen wissen wir mehr.«
Dann ging sein Piepser, und mit ihm auch er.
16
Ich wollte nur noch so schnell wie möglich raus aus dem Ospedale. Als es nach zwei Wochen so weit war und ich mit Michele am Pförtnerhäuschen vorbei zum Imbarcadero stapfte, schien mir alles unwirklich – die Leute, die bei der Anlegestelle warteten, das verbeulte Boot, das näherkam, der Himmel mit seinem glühenden Rosarot. Es war, als sähe ich alles zum ersten Mal. Als hätte ich solche Szenen nicht schon tausendfach erlebt – die Frau, die mit Lauch und Tomaten auf dem Deck stand und sich an der Reling festhielt, der Mann, der in den Gazzettino vertieft war, die Kinder mit ihren Schulranzen, die sich gegenseitig aufzogen und nach Hause stürmten. Als das Boot Richtung Fondamente Nuove ablegte, durchflutete mich ein Gefühl von Freiheit. Endlich war ich dieser Höllenmaschine entronnen.
Aber ich fühlte mich noch schwach. Michele sprach in einem fort auf mich ein, um mich abzulenken. Der Bauch schmerzte noch immer, und ich wollte nur schlafen.
Als ich auf die Wellen hinausschaute, dachte ich: Nun weiß ich, wie es ist, ein alter Mann zu sein. Und ich hatte einiges vor mir: Ich musste gesund werden. Dann musste ich die Beziehung mit Paolina klären. Ich musste sehen, wie es um meine Gelateria stand. Und um meine Zukunft als Gelatiere. Der Arzt hatte eine Lactose-Unverträglichkeit festgestellt, eine Allergie auf Milchzucker, und mir vom Genuss von Eis abgeraten. Wenn ich kein Eis mehr essen durfte, konnte ich meinen Beruf vergessen.
Auf Höhe der Fondamenta degli Incurabili standen wir auf. Der Motorton des Schiffes wurde leiser, man hörte nur noch das Rauschen der Wellen. Ich fühlte mich unsicher auf den Beinen, das Boot schlingerte, und als es bei Zattere gegen den Landungssteg stieß, musste Michele mich halten. Das Tau wurde um den Poller geworfen, die Metallbarriere zurückgeschoben. Während wir vom öligen Anstrich des Decks auf die verwitterten Bohlen des Stegs traten, sah ich auf der Wasseroberfläche die Luftbläschen von Taschenkrebsen. Zwei Plastikhandschuhe trieben an den Holzpfählen vorbei. Die Glocken der Gesuati-Kirche läuteten mit denen von San Trovaso um die Wette.
Vom Imbarcadero gingen wir zum Ponte Lungo. Im Rio
darunter schwammen Enten. Ein Gondoliere in weiß-blau gestreiftem Trikot, die Gondel mit Japanern besetzt, hatte sich hierher verirrt. Sein Ruder klatschte aufs
Weitere Kostenlose Bücher