Die Geliebte des Gelatiere
in die Tiefe stürzte. Die Zeit schien für einen Augenblick aufgehoben. Oder zu zerspringen. Vor lauter Schäumen sah man fast nichts. Das einen Kilometer entfernte kanadische Ufer war nicht auszumachen. Die Luft donnerte, die Erde bebte.
Lange standen wir da und staunten. Verzaubert gingen wir zurück, Noemi wollte wieder über den gesperrten Trampelpfad, und etwas in mir schüttelte den Kopf. Aber ich ging ihr nach, ich wollte nicht wie ein Langweiler dastehen. Der glitschige Pfad ließ mir den Atem stocken. Nach einer Weile erreichten wir die Anlage mit den drei, vier Häusern, die zum Cave of the Winds führte. Dort kam man auf hölzernen Stegen zu Plattformen am Fuß der amerikanischen Fälle, erlebte hautnah die donnernden Wasser, stand mitten in der grollenden Hexenküche. Bei den Häusern wurde man für die Tour ausgerüstet. In einer Garderobe wartete ein in gelbe Regenponchos gehülltes Grüppchen auf den Fahrstuhl in die Tiefe. Wir zogen unsere Schuhe aus und schlüpften in die riesigen braunen Stiefel, die bis zu den Knien reichten. Dann stiegen wir in das Ölzeug. Derart ausgestattet, harrten wir aus, bis unser Grüppchen an der Reihe war, mit dem Lift nach unten zu rauschen. Noemi machte ein Bild von mir in dem bizarren Outfit. Mir war nicht wohl in den riesigen Stiefeln. Schließlich gesellte sich ein Führer zu uns, stellte sich als Mr. Cleary vor und gab die Instruktion, nicht vom Weg abzukommen und sich strikt an seine Anweisungen zu halten. Wenig später fuhren wir mit dem Aufzug durch den Fels. Unten angekommen, stapften wir erst durch einen neonbeleuchteten Tunnel, in dem man es donnern und rauschen hörte, und dann standen wir plötzlich draußen auf der untersten Plattform, von wo man über verschiedene Stege immer näher an die Fälle herankam. Gänsehaut überzog mich mitten in diesem Tosen, zwischen gewaltigen Felsbrocken und schäumenden Wassermassen. In sicherem Abstand tuckerte die Maid of the Mist zu den kanadischen Fällen, und hoch über uns schwebte ein Fesselballon am wolkenlosen Himmel.
War es schon beschwerlich gewesen, mit den unpraktischen Stiefeln durch den Tunnel zu stapfen, schien mir das Gehen auf den glitschigen Holzplanken noch schwieriger. Ich hatte keinen Halt in den zu großen Latschen, rutschte hin und her und wurde noch und noch überholt. Langsam arbeitete ich mich am Geländer hoch, hielt mich vorsichtig fest, rundherum ein ungeheures Brodeln und Brausen. Selbst Noemi, die unmittelbar hinter mir gegangen war, ließ mich hinter sich und lächelte mir im Vorbeigehen verschmitzt zu. Sie hatte sich passendere Stiefel ausgesucht und ging leichtfüßig über die Planken hinweg. Immer wieder spritzte einem Wasser ins Gesicht, Gischt sprühte von allen Seiten auf. Ich wollte Noemi fotografieren, so nahe an den Fällen, beinahe mittendrin, doch die Linse beschlug auf eine Weise, dass im Sucher nur Schemen auszumachen waren. Die paar Fotos, die ich trotzdem machte, zeigten nur verschwommen eine neblige Gestalt. Wegen des ohrenbetäubenden Lärms hörte ich die Anweisungen des Führers nicht mehr, aber ich folgte einfach den anderen. Nach einiger Zeit begann ich mich zu ärgern, dass ich in diesen Trip eingewilligt hatte. Ich keuchte, bekam kaum Luft und war heilfroh, die Gruppe nicht aus Sichtweite zu verlieren.
Auf einer unteren Plattform machte ich eine Pause, während die anderen schon weiter oben waren. Noemi winkte und lachte mir von oben zu, sie schien ganz in ihrem Element, wenigstens ihr bereitete das höllische Treiben Spaß. Der Cave of the Winds machte seinem Namen alle Ehre, kräftige Winde pfiffen über die Planken und zerrten an den Ponchos, ließen ein Meer von Tropfen auf uns niederregnen. Trotz Regenschutz war ich völlig durchnässt, meine Kapuze wurde immer wieder aufgerissen, und auch in die Stiefel drang Wasser ein. Ich hätte nicht mitgehen, sondern oben warten, an Michele oder meine Eltern eine Postkarte schreiben sollen. Jetzt aber gab es kein Zurück mehr, ich durfte Noemi und die anderen nicht aus den Augen verlieren, ich wollte nur noch in den Tunnel zurück, in den Aufzug, und dann nichts wie hoch, nichts wie zurück in das warme Hotel, die nassen Kleider ausziehen und unter die heiße Dusche.
Endlich erreichte ich Noemi und die Gruppe auf der höheren Plattform. Wir standen unmittelbar neben dem tobenden Inferno. Sie nahm mich in den Arm und küsste mich, strich mir zärtlich durchs Haar. Ihre Geste hob meine Stimmung, und ich war glücklich,
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