Die Geliebte des Gelatiere
dass sie glücklich war. Aber ich fühlte mich auf seltsame Weise auch allein, obwohl sie übers ganze Gesicht strahlte, obwohl sie hin und weg war von dem grandiosen Schauspiel. Je einsamer ich mich fühlte, desto fester drückte ich sie an mich.
Der Führer brüllte, wir sollten weitergehen zur nächsten Plattform. Noemi schickte sich an, ein Bild von dem Regenbogen zu machen, der sich über uns spannte. Ich wollte bei ihr bleiben, aber sie meinte, ich solle ruhig vorgehen, sie sei sowieso schneller und hole uns gleich wieder ein. So löste ich mich von ihr, und sie blieb allein zurück. Unsicher stapfte ich auf den Planken hoch, immer neue Güsse prasselten mir an den Kopf, ans Ölzeug, die Windstöße raubten mir fast den Atem. Ich war erleichtert, den Weg zurück zu einem Tunnel zu erblicken, als unmittelbar neben mir ein gewaltiger Schwall Wasser über den Steg fegte. Ein dumpfes Poltern war zu hören, wie wenn ein Riese über die Planken ginge, dann war, trotz des Lärms, für einen Moment alles still. Eine Stille, die sich endlos hinzuziehen schien. Schließlich kam ein Brüllen von oben, und als ich mich umdrehte, war Noemi nicht mehr zu sehen. »Noemi!«, schrie ich verzweifelt, hastete zur unteren Plattform, watete durch das Wasser, wollte nicht glauben, dass sie nicht mehr da stand. Oben kreischten Stimmen, Mr. Cleary rief mich zurück, »Vorsicht! Vorsicht!«, rief er, aber ich hörte nicht auf ihn, stieß vielmehr auf Noemis Kamera, deren Riemen sich an einem Pfosten verfangen hatte. Doch von Noemi weit und breit keine Spur. Wie gelähmt hielt ich mich an dem Pfosten fest, rang, ihre Kamera in den Händen, um Atem, starrte auf die überfluteten Planken und suchte mit den Augen die umliegenden Felsen ab. »Noemi!«, schrie ich noch einmal, doch außer dem alles verschlingenden Tosen war nichts zu hören.
Ein weiterer Schwall schwappte über die Absperrung, ich klammerte mich mit letzter Kraft an den Pfosten. »Kommen Sie!«, schrie Mr. Cleary, der sich nach unten gekämpft hatte. »Es ist zu gefährlich hier!«, brüllte er und versuchte mich hochzuzerren, doch ich klammerte mich weiter an den Pfosten, als ob davon mein Leben abhinge. Störrisch blieb ich stehen, wollte nicht wahrhaben, dass Noemi etwas zugestoßen sein konnte. Tränen liefen mir über die Wangen, vermischten sich mit der Gischt auf meinem Gesicht. Cleary redete mir zu, doch ich hörte nicht, was er sagte. Ich sah nur, dass sich seine Lippen bewegten. Eindringlich und beschwörend sah er mich an. Seine buschigen Brauen hoben sich, er schüttelte mich am Arm, aber ich ließ den Pfosten nicht los. Da Cleary nicht von mir abließ, wurde ich wütend, aber ich hatte die Kraft nicht, ihn abzuschütteln. Es war ein Schmerz in mir, der mich vollkommen lähmte, mich versteinerte. Cleary zerrte an mir und fluchte ohne Unterlass. Immer neue Wasserschwälle schwappten über die Planken, als hätte man Schleusentore geöffnet. Wie ein Schiffbrüchiger klammerte ich mich an den Pfosten. Meine Sturheit brachte Cleary zur Weißglut. Aber warum ließ er mich nicht in Ruhe? Warum haute er nicht einfach ab und brachte den Rest der Gruppe in Sicherheit? Endlich wandte er sich ab, als hätte er meine Gedanken gelesen. Auch die Wasserschwälle ließen nach, und endlich hatte ich Gelegenheit, etwas mehr zu sehen, nach Noemi Ausschau zu halten. Da fühlte ich einen Schlag an den Hinterkopf und brach zusammen. Ich sah noch Noemis Kamerariemen, dann sah ich nichts mehr. Einige Momente lang war ich weg, aber im gleißenden Neonlicht des Tunnels kam ich rasch wieder zu mir. Ich blutete, und Sanitäter kümmerten sich um mich. Offenbar hatte mir Cleary von hinten seine Faust an den Kopf gerammt, um mich zu überwältigen und hochzuschleppen. Ich wollte sofort wieder hinaus, Noemi suchen, sie retten, aber mit vereinten Kräften hielten mich die Sanitäter zurück, drängten mich in den Lift und begleiteten mich nach oben. In der Garderobe befreite man mich von den Stiefeln und dem Ölzeug, stillte die Wunde, legte behelfsmäßig einen Verband an. Dann kam der Krankenwagen, in den ich nicht wollte, aber die Sanitäter banden mich auf die Bahre, und schon jagte der Wagen mit Blaulicht Richtung Festland.
Im Spital ging alles sehr schnell. Das Loch im Kopf war in wenigen Minuten genäht, und da ich sonst in Ordnung war, durfte ich mit der Auflage, mich zu schonen, wieder gehen. Ich wollte gleich zu den Fällen zurück, aber der Mann vom Kriseninterventionszentrum, der
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