Die Geliebte des Malers
dieses Kleid?« Colin kam direkt vor ihr zum Stehen. »Ist nicht wichtig«, redete er sofort weiter, als sie schon den Mund geöffnet hatte, um auf seine Frage zu antworten. »Kommen Sie, sehen wir es uns an.«
Er griff nach ihrer Hand und zog sie zur Tür hinaus, noch bevor sie auch nur ein Wort sagen konnte. Cassidy konzentrierte sich gänzlich auf die steilen Stufen. Sie hatte keine Lust, sich hier den Hals zu brechen.
»Wohin jetzt?«, verlangte Colin zu wissen, als sie auf der Vorderseite des Gebäudes angekommen waren.
»Es ist nur ein paar Häuserblocks entfernt, in diese Richtung.« Sie zeigte nach links. »Aber Colin …« Weiter kam sie nicht. Er hatte sie schon wieder bei der Hand gepackt und marschierte mit energischen Schritten den Bürgersteig hinunter. »Colin, Sie sollten wissen, dass … Herrgott, ich hätte meine Wanderschuhe anziehen sollen! Könnten Sie vielleicht etwas langsamer gehen?!«
»Sie haben doch lange Beine«, lautete sein einziger Kommentar. Das Tempo verlangsamte er nicht.
Mit einem entnervten Schnauben verfiel Cassidy an seiner Seite in einen leichten Trab, um mit ihm Schritt halten zu können. »Sie sollten wissen, dass das Kleid in der Boutique hängt, aus der ich gestern gefeuert worden bin.«
»Eine Boutique?« Diese Information schien ihn immerhin genügend zu interessieren, dass er stehen blieb und sie ansah. Mit einer Geste zerstreuter Vertrautheit steckte er ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. »Was haben Sie in einer Boutique gemacht?«
Cassidy bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick. »Ich habe für meinen Lebensunterhalt gearbeitet, Sullivan. Das müssen übrigens die meisten von uns tun, wenn sie etwas essen wollen.«
»Werden Sie nicht bissig, Cass«, riet er ihr milde. »Sie sind keine professionelle Verkäuferin für Damenbekleidung.«
»Genau aus diesem Grund bin ich ja auch gefeuert worden.« Jetzt konnte sie darüber grinsen. »Genauso wenig, wie ich eine professionelle Bedienung bin. Weshalb ich aus Jims Bar & Grill herausgeflogen bin. Ich weigere mich nämlich generell, bestimmte Teile meiner Anatomie antatschen zu lassen. Also habe ich einem Kunden eine Schüssel mit Krautsalat über den Kopf gestülpt. Über meine kurze Karriere als Telefonistin im Callcenter möchte ich lieber nicht reden. Das ist eine wirklich traurige und sehr deprimierende Geschichte, und der Tag ist doch so schön.« Lächelnd drehte sie den Kopf zu Colin und stellte fest, dass er sie gebannt beobachtete.
»Wenn Sie also weder eine professionelle Damenbekleidungsverkäuferin noch eine professionelle Bedienung und auch keine Telefonistin sind … was sind Sie dann, Cass?«
»Eine aufstrebende Schriftstellerin, die seit dem College unfähig scheint, einen Job länger als drei Monate zu halten.«
»Eine Schriftstellerin also.« Er nickte, während er sie ansah. »Und was schreiben Sie?«
»Unveröffentlichte Romane«, antwortete sie prompt und lächelte noch breiter. »Und den einen oder anderen veröffentlichten Artikel, zum Beispiel über die Wirkung von Parfüm auf den modernen Mann. Man muss schließlich einen Fuß in der Tür haben, nicht wahr?«
»Und? Sind Sie gut?« Colin wich einem entgegenkommenden Passanten aus, ohne den Blick von Cassidy zu nehmen.
»Ich sprudle geradezu über vor unverbrauchtem und vor allem unentdecktem Talent.« Sie schüttelte das Haar zurück und deutete mit dem ausgestreckten Arm nach vorn. »Da ist es. Ich frage mich, was Julia wohl zu sagen hat. Wahrscheinlich glaubt sie, Sie halten mich aus.« Sie biss sich auf die Lippe, um das Kichern zurückzuhalten. »Sagen Sie, Colin, können Sie auf Kommando verzehrende Blicke senden?« Der Schalk funkelte aus ihren Augen, als sie vor der Tür der Boutique stehen blieb. »Denn dann könnten Sie mich vielleicht ein paar Mal schmachtend ansehen. Das würde Julia wochenlang beschäftigen.« Das Lachen stand noch immer auf ihrem Gesicht, als sie die Eingangstür aufschob.
Julia blieb sich treu und begrüßte Colin mit unfehlbarer Höflichkeit und nur dem winzigsten Anflug von Neugier. Der erste erstaunte Blick hatte ihrer ehemaligen Angestellten gegolten, dann weiteten sich ihre Augen unmerklich, als sie Colin erkannte. Eine Augenbraue wanderte hoch auf die Stirn, als Cassidy nach dem hellgrauen Seidenkleid fragte, aber Julia fing sich rasch und übernahm es dann, die neuen Kunden persönlich zu bedienen.
Während Cassidy sich in der Umkleidekabine die Jeans von den Beinen streifte, staunte sie über
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