Die Geliebte des Malers
gegenüber Distanz zu wahren.
Sie würde sich sachlich und geschäftsmäßig geben. Schließlich war er ihr Arbeitgeber. Er war Künstler, und ganz offensichtlich ein launischer, fügte sie mit einem stillen Schnauben in Gedanken hinzu. Mit mehr Schwung als nötig sprang sie von der Straßenbahn ab, um den Rest des Weges zu Fuß zurückzulegen.
Er war ein Maler, der von ihrem Gesicht fasziniert war und ein Porträt von ihr malen wollte, mehr nicht. Er empfand keinerlei persönliche Gefühle für sie. Und sie empfand nichts dergleichen für ihn. Wie auch? Sie kannte ihn ja kaum. Das, was sie gestern für Colin Sullivan gefühlt hatte, war nur durch die einnehmende Wirkung seiner Persönlichkeit entstanden. Denn die war zweifelsfrei stark, nahezu magnetisch. Doch die Verbindung zwischen ihnen hatte sie sich nur eingebildet. Solche Dinge passierten nicht von jetzt auf gleich, nicht in diesem Tempo. Die einzige Verbindung, die zwischen ihnen bestand, war die zwischen Maler und Modell. Cassidy hatte sich wohl wieder einmal in der Fantasiewelt ihrer Romane verloren.
Vor den Stufen der Treppe zu Colins Atelier blieb Cassidy stehen. Dennoch, er hätte ihr wenigstens danken können, dass sie das Problem mit dem Kleid so schnell für ihn gelöst hatte. Na, dann eben nicht. Mit einer achtlosen Geste der Hand wischte sie diesen Gedanken beiseite und machte sich an den Anstieg. Der Mann war ja so von sich selbst eingenommen, wahrscheinlich hatte er schlicht vergessen, dass der Vorschlag von ihr gekommen war.
Sie schüttelte ihr Haar zurück und klopfte, ganz darauf eingestellt, sachlich und professionell ihre neue Arbeitsstelle anzutreten. Ihr Entschluss wankte ein wenig, als nicht Colin, sondern Gail Kingsley die Tür aufzog.
»Hallo«, grüßte sie mit einem Lächeln, trotz der kühlen Musterung in Gails Blick.
Als Antwort lud Gail Cassidy mit einer ausholenden Armbewegung ein, einzutreten. Bei jedem anderen hätte diese Geste übertrieben gewirkt, nicht so bei Gail. Diese Exaltiertheit passte zu ihr.
Gail bot heute ein wirklich bemerkenswertes Bild. Niemand außer ihr würde es wohl wagen, einen engen Overall in Neonpink zu rotem Haar zu tragen. Colin war nirgendwo zu sehen. Cassidy schwankte zwischen Bewunderung für die Courage der Rothaarigen und Enttäuschung, dass Colin sie nicht selbst begrüßt hatte. In Jeans und Pullover fühlte sie sich linkisch wie ein Teenager.
»Bin ich zu früh?«
Die Hände in die Hüften gestemmt, umkreiste Gail Cassidy langsam. »Nein, Colin ist nur noch beschäftigt. Er wird gleich hier sein. Sagen Sie, sind Ihre Locken echt oder hat da der Friseur nachgeholfen?«
»Nein, die sind echt«, antwortete Cassidy ruhig.
»Und die Farbe?«
»Auch Natur.« Gails intensives Parfüm überdeckte sogar den Geruch von Farben und Terpentin. Als die andere wieder vor ihr stand, fragte Cassidy direkt: »Warum?«
»Reine Neugier, Liebes, reine Neugier.« Gail verzog die Lippen zu einem strahlenden Lächeln, so als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Genauso schnell verschwand es wieder, ohne auch nur die Spur einer Andeutung auf ihrer Miene zu hinterlassen. »Colin ist recht eingenommen von Ihrem Gesicht. Er scheint an der Schwelle zu einer romantischen Periode zu stehen. Mir persönlich hat diese Technik nie zugesagt.« Mit zusammengekniffenen Augen kam sie näher, um Cassidys Gesicht zu inspizieren.
»Soll ich den Mund aufmachen, damit Sie sich mein Gebiss ansehen können?«, fragte Cassidy harmlos.
»Sie brauchen gar nicht schnippisch zu werden.« Gail tippte sich mit einem rot lackierten Fingernagel nachdenklich gegen die Lippen. »Colin und ich teilen uns die Modelle oft. Ich wollte nur sehen, ob ich Sie auch für etwas gebrauchen kann.«
»Ich bin kein Familienmenü, Miss Kingsley«, gab Cassidy mit Inbrunst zurück.
»Ein gutes Modell sollte Vielseitigkeit besitzen«, konterte Gail unbeeindruckt und streckte einen Arm gerade in die Luft. »Ich hoffe nur, Sie begehen nicht den gleichen Fehler wie die Letzte.«
»Die Letzte?«, hakte Cassidy unwillkürlich nach und hätte sich am liebsten die Zunge dafür abgebissen.
»Die Ärmste hat sich hoffnungslos in Colin verliebt.« Gail bedachte Cassidy mit einem weiteren angeknipsten Lächeln. Ihre hastigen, eckigen Bewegungen rieben Cassidy auf. Gail war wie eine Katze, die ihrer Beute auflauerte. »Was das Schlimmste war … sie hat sich auch noch eingebildet, Colin wäre ebenso verliebt in sie. Ein wirklich trauriges Schauspiel. Und
Weitere Kostenlose Bücher